Foto: Ensemble des Dortmunder Balletts in "Maquette" © Leszek Januszewski
Text:Verena Blatz, am 20. Februar 2022
„New London Moves“ am Theater Dortmund zeigt drei Stücke von drei englischen Choreografen, deren Bewegungssprachen sehr unterschiedlich sind. Es ist, als würde man an einem Abend drei in sich abgeschlossene Tanzwelten besuchen. Trotz dieser Verschiedenartigkeit der Produktionen haben sie eine Gemeinsamkeit, die sich wie ein roter Faden durch den Abend zieht: In den getanzten Geschichten begegnen wir Figuren, die fremdbestimmt sind. Es sind Figuren, die geklont wurden; Figuren, die wie Aufziehpuppen ihre eigenen Bewegungsabläufe wiederholen und Figuren, deren Seelen durch traumatische Kriegserlebnisse Schaden genommen haben.
Der Abend beginnt mit „Eden|Eden“ von Wayne McGregor. Eine Frau erscheint auf der Bühne, ein Mann kommt dazu und es senkt sich ein Baum von oben herab. Die beiden wirken unschuldig in ihrer scheinbaren Nacktheit.
Die Musik zu diesem Bild stammt aus Steve Reichs dreiteiligen Oper „Three Tales“. Teil dieses Musikstücks ist ein Gespräch von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern über historische, wissenschaftliche, ethische und religiöse Aspekte des Umgangs mit dem menschlichen Körper. Während sie also über die menschliche DNA diskutieren, bevölkern immer mehr Paare diesen Garten Eden. Es scheint ein Leben in Perfektion mit perfekten Bewegungsabläufen zu sein.
Die Choreografie ist klar strukturiert, als herrschten Regeln in diesem Mikrokosmos: Während eines Pas de deux‘ stehen die anderen Tänzer:innen seitlich, als würden sie auf ihr eigenes Handeln warten. Die Tatsache, dass die Bewohner dieses Gartens so schnell mehr werden, führt schließlich weg von der Idee des biblischen Garten Eden. Auch der Titel von Reichs Komposition, „Dolly“ (eine Reminiszenz an das in Schottland geklonte Schaf), verweist auf die Thematik des Klonens.
Das „Eden|Eden“ ist zweigeteilt: Im ersten Teil sind die Figuren nackt und im Einklang miteinander, wenn auch auf eine seelenlose Art. Im zweiten Teil bekommen sie identische Kleidung, die Bewegungen werden schneller, als würden die Menschen zu perfekten Maschinen. Sie sind jetzt äußerlich individueller, die Frauen zum Teil mit langen femininen Zöpfen. Das Lichtdesign zeigt eine Stadt mit erleuchteten Hochhäusern. Überall sind Lichteffekte, die die zunehmende Hektik in der Musik untermauern. Die wachsende Individualität der Personen und die Reize der Großstadt führen zu Problemen in den Beziehungen. Während drei Frauen synchron an der Rampe tanzen, tanzt ein Mann hinter ihnen ein Solo. Am Ende bleibt eine Frau alleine in dieser künstlich erzeugten Welt zurück.
Kopierte Bewegungsabläufe
Das zweite Stück ist eine Uraufführung von Douglas Lee. In dieser Produktion bestimmt das Licht den Raum. Der Boden ist begrenzt durch LED-Lichtstreifen, die ein Viereck bilden. Über der Bühne hängt ein schwarzer Kubus, dessen Kanten ebenfalls mit LED-Lichtstreifen versehen sind. Der Raum ist, abgesehen von der Beleuchtung, komplett schwarz. Für dieses Stück hat Nicolas Sávva seine erste vollständig elektronische Partitur geschrieben.
Die Produktion heißt „Maquette“, also ein Modell oder ein Rohentwurf eines Kunstwerks. Mit einer Maquette werden Formen und Ideen erprobt. Diesen Versuchs- und Erprobungscharakter hat auch das Bewegungsvokabular der Tanzenden. Sie erproben und variieren einzelne Abläufe, bis sie „richtig“ zu sein scheinen. Das erinnert stellenweise an Aufziehpuppen, die keine Wahl haben, sondern das machen, was ihnen eingegeben wurde.
Hier wird viel mit synchronen Bewegungsabfolgen gearbeitet, die wiederholt werden und deren Qualität und Dynamik minimal verändert wird. Im Verlauf des Stücks entwickeln und verändern sich diese Prototypen. Auch sie gewinnen an Individualität – ähnlich wie in „Eden|Eden“. Während das Licht zu flackern beginnt, wird die Körpersprache kraftvoller. Die Bewegungen, auf Spitze getanzt, sind stark und etablieren neue Formen in den mechanischen Abläufen. Die Kombination von schwarzem Raum mit den orangefarbenen Bodysuits der Tänzer:innen und einer Beleuchtung von unten lässt die Agierenden mitunter diabolisch wirken und nimmt uns Zuschauenden mit in eine Art „Labor-Unterwelt“.
Staub des Krieges
Zuletzt folgt „Dust“ von Akram Khan, eine deutsche Erstaufführung. Diese Produktion befasst sich mit Menschen im Ersten Weltkrieg, mit Tätern und Opfern – Rollen, die im Kriegskontext oft nicht voneinander getrennt werden können. Dieses Stück ist bildgewaltig. Es nimmt die Zuschauenden mit in eine Welt voller Verzweiflung und Wut und begibt sich gemeinsam mit dem Publikum auf die Suche nach Nähe. Es hat im Hinblick auf die Bewegungssprache im Vergleich mit den ersten beiden Produktionen das am wenigsten klassische Vokabular.
Am Anfang sehen wir einen sich windenden Mann in der Mitte der Bühne. Ein schwermütiger Männerchor (Musik: Jocelyn Pook) lässt an die Leiden der Soldaten denken. Hinter ihm und vor einem Wall stehen über die komplette Breite der Bühne Männer und Frauen in Arbeitskleidung. Durch eine Klatschbewegung befördern sie Staub in die Luft – der Dreck aus den Schützengräben, nach dem das Stück benannt ist. Frauen lösen sich aus der Reihe und unterstützen den leidenden Mann. Die anderen Männer verschwinden über den Graben – vielleicht zurück in den Krieg. Die Compagnie wird hier erweitert durch das NRW Juniorballett. Die Bewegungen sind kämpferisch und kraftvoll mit langen, über die Bühne und durch den Staub schwingenden Röcken.
„Dust“ endet mit einem fantastischen Duett, das die Wiederbegegnung eines Paares zeigt. Beide wurden auf ihre Weise verwundet und versuchen hier, wieder ein Paar zu sein. Dieser gemeinsame Tanz wirkt fast wie ein Kampf: Alisa Uzunova und Joshua Green stemmen sich gegeneinander, tanzen einzeln, finden sich wieder in sich umklammernden Posen, um sich dann wieder aus der Umarmung zu winden. Das sind sehr intensive Bilder, die das Publikum an diesem Abend mitnimmt auf seinem Weg aus dem Theater.