Foto: Angelika Berger in "Hier ist noch alles möglich" am Jungen Ensemble Stuttgart. © Andreas Etter
Text:Manfred Jahnke, am 16. Oktober 2022
Der 2018 veröffentlichte Roman „Hier ist noch alles möglich“ der jungen Schweizer Autorin Gianna Molinari flirrt vor Bedeutungsmöglichkeiten. Die junge Ich-Erzählerin hat ihren Job als Bibliothekarin aufgegeben und tritt eine Stelle als Nachtwächterin in einer Kartonagenfabrik an, die kurz vor der Aufgabe steht. Da wird vom Koch ein Wolf gesichtet. Die Protagonistin und Clemens, der ebenfalls Nachtwächter ist, werden vom Chef beauftragt, eine Fallgrube für den Wolf zu bauen. Dann erfährt sie noch von der Geschichte eines vom Himmel gefallenen Mannes, der schon tot war, als er aus dem Fahrwerk eines Flugzeugs gestürzt ist.
Molinari collagiert diese verschiedenen Geschichten nicht nur mit Fotos und Zeichnungen, sondern entwickelt auch eine Art Inseldramaturgie, wobei Inseln das Ferne und die Sehnsucht, aber auch eine in sich geschlossene Nähe vorführen. Die Ich-Erzählerin wird nicht greifbar: Sie beobachtet nur, nimmt keine Stellung zu dem, was um sie herum geschieht. Ist sie die Bankräuberin, die auf Fahndungsplakaten gesucht wird, sieht sie wirklich den Wolf in ihrer „Halle“ in der Fabrik? Oder ist sie auf der Suche nach sich selbst, eine, die in der Abgeschiedenheit – wie in den Märchen – sich zu finden versucht? Eine dissoziative Persönlichkeit? Alle möglichen Interpretationsansätze bleiben in der Schwebe.
Eine solche Geschichte ins Theater zu übertragen, verlangt Mut. Die Offenheit der Vorlage mit ihrer Interpretationsvielfalt verlockt zu verengenden Deutung. Das Team um Regisseurin Julia Skof und Dramaturg Christian Schönfelder am Jungen Ensemble Stuttgart verweigert sich jeder Festlegung – und schafft damit paradoxerweise einen großen Theaterabend. Eine Art von Halfpipe mit einer Erhöhung, die darunter eine Höhlung schafft, dominiert die Szene von Anka Bernstetter. Die Videos von Marie-Christin Sommer, die teilweise vorproduziert, teils live gefilmt werden, zeigen zeitversetzt die auf der Bühne Agierenden. Weißer Sand liegt unter dieser Röhre und auch außerhalb. Unaufhörlich häufen während der gesamten Vorstellung Angelina Berger und Henry Braun kleine Sandinseln.
Auf Identitätssuche
Berger spielt diese Ich-Erzählerin, die die Grenze zum auktorialen Erzählen überschreitet: Sie beobachtet ihr Umfeld und mit diesem sich selbst. Sie macht es forsch, voller Power, eine, die neugierig auf die Welt schaut und Fragen an diese hat – und keine Antworten bekommt, weil diese nur aus ihr selbst kommen können. Berger führt diese junge Frau, die alles in sich aufzusaugen scheint, lächelnd-locker vor, weit weg von aller Dystopie. Hier ist jemand, der, um zu sich selbst zu kommen, schaut, was da ist – und vergisst darüber, dass man eigentlich Teil dieser Beobachtung ist, dass die Beobachtung auch etwas mit einem macht. Berger legt das in ihrem Spiel offen – und macht damit zugleich deutlich, was diese Haltung für die Identitätsfindung einer jungen Frau bedeuten könnte, wenn sie ihre Grenzen zu überschreiten versucht.
Eigentlich hat die Rolle des Clemens im Roman nur eine Nebenbedeutung. Er ist halt der Kollege, mit dem sich die Ich-Erzählerin zu arrangieren hat. Aber was Henry Braun aus dieser Rolle macht, ist einfach bewundernswert: Am Anfang eher Stichwortgeber scheint er sich mit dem Anhäufen von kleinen Sandhaufen zu begnügen. Aber dann entfaltet er einen wahren Spielfuror, stellt die entscheidenden Fragen, treibt mit seinen Zweifeln und Geschichten die Handlung voran, sprintet auch schon mal übermütig auf der Halfpipe voran. In dieser Inszenierung ist er der heimliche Spielmacher. Auch er beobachtet, zieht aber daraus keine Schlüsse. In seinen forschenden Blicken ist abzulesen, das er auf jemanden trifft, den er nicht versteht – und doch von dieser Person fasziniert ist.
Damit wird Henry Braun in seiner Rolle zum Spiegelbild des Publikums, das fasziniert dem Spiel zuschaut. Die Rätsel des Romans werden nicht aufgelöst. Das liegt auch nicht in der Absicht des Teams, das die Handlungen des Romans auf die Beziehung zwischen der Ich-Erzählerin und Clemens konzentriert und so kleine Möglichkeiten generiert, Aspekte der beiden Persönlichkeiten zu greifen. Mit dieser Spurensuche entsteht ein spannender Theaterabend.