Szene aus „Kindeswohl"

So viel Schmerz, so wenig Feuer

Ian McEwan: Kindeswohl

Theater:Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Premiere:18.09.2021Vorlage:nach dem gleichnamigen RomanRegie:Karin Beier

Wer will, mag in der Debatte um Selbstbestimmung oder Vernunft zumindest den (eher überschaubaren) Teil der Impfverweigerer wiedererkennen, die womöglich tatsächlich auf Grund eines fest – um nicht zu sagen: fundamentalistisch – gefügten religiösen Weltbildes den eventuell lebensrettenden, in jedem Fall das Risiko schwerer Krankheit reduzierenden Pieks verweigern. Aber wird McEwans Fabel „Kindeswohl“ auf der Hamburger Theaterbühne dadurch tatsächlich zum Statement zur Lage der pandemischen Welt? Eher nicht. Dazu sind Struktur und Gefüge der Geschichte einfach zu geschickt gestrickt. Die lärmende Querdenkerei der vergangenen eineinhalb Jahre kann und darf sich hier nicht geadelt fühlen durch das Theater.

Moralisches Gedankenspiel

2014 erschien der Roman „Kindeswohl“ des britischen Autors Ian McEwan. 2017 folgte die Verfilmung von Richard Eyre mit Emma Thompson in der zentralen Partie einer Richterin, die mitten in der eigenen Ehe-Krise über Leben oder Tod eines gerade noch nicht volljährigen Jungen entscheiden muss, der Blut-Transfusionen in der Krebs-Behandlung verweigert – aus religiösen Gründen. Karin Beier, Intendantin am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, hat für die erste eigene Inszenierung der neuen Spielzeit eine Theaterfassung erstellt.

Adam ist kurz davor, 18 Jahre alt zu werden, als die zuvor diagnostizierte Leukämie ins finale Stadium zu treten droht. Die Familie gehört zu den „Zeugen Jehovas“, in deren Weltbild die Vermischung des eigenen Blutes mit fremdem (etwa bei einer Blut-Transfusion) Sünde ist und darum nicht vorkommen darf. Dürfte Adam schon selbst entscheiden, wäre die Sache auch juristisch klar: keine Behandlung, wenn der Patient nicht will; mit dem Risiko des schnellen Todes. Da er aber so gerade eben noch 17 ist, rein rechtlich also ein Kind ohne verpflichtendes eigenes Recht zur Entscheidung über sich selbst, über Leben und Sterben, muss sich die Richterin Fiona mit Adams Fall befassen. Sie engagiert sich, geht nicht nach Aktenlage vor, will den Jungen kennenlernen, ja womöglich überzeugen, Religion Religion sein zu lassen und für das Leben zu votieren – und sie trifft einen extrem intelligenten Patienten, der für die eigene Bereitschaft zu Leid und Tod verführerisch gute Argumente hat.

Solch einen klugen, reflektierten Kopf aber will die Juristin nicht aus der Welt lassen – und gibt die Behandlung mit Blut-Transfusionen frei – orientiert am „Kindeswohl“, wie sie es versteht. Der Junge scheint geheilt – aber erst jetzt beginnt das Drama.

Verantwortung für Leben und Tod

Fiona hat ihm nicht nur das Leben gerettet. Sie ist auch zur prägenden intellektuellen Partnerin für ihn geworden. Banaler gesagt: Er hat sich verliebt, will bei ihr (und ihrem Immer-noch-Gatten) einziehen. Ein Kuss von ihr wird zur Grenzüberschreitung. Er beginnt sie zu verfolgen. Weil er vernünftigerweise abgewiesen wird, aber mittlerweile 18 Jahre alt ist, verweigert er beim neuerlichen Ausbruch der Krankheit das Fremd-Blut wieder – und stirbt. Die Richterin muss leben mit dem zerstörerischen Gefühl doppelter Verantwortung – erst für Adams Leben, dann für Adams Tod.

„Kindeswohl“ steckt voller brillanter Diskussionen um Selbstbestimmung und Vernunft, vor allem aber über das Recht dazwischen. Auch ohne aktuelle Hintergedanken sind das lauter kluge und nachvollziehbare Plädoyers. Und McEwan entscheidet nicht – bestenfalls konstatiert er, dass bewusstes Leben ohne Schuld und Schmerz nicht möglich ist.

Es fehlt Mut

Beiers Team bleibt eng am Text, fügt nur geschickt die teilweise abweichenden heimischen Rechtsnormen ein. Auch die Nebengeschichten (beispielsweise mit dem untreuen Gatten der am eigenen Altern leidenden Richterin oder mit den Anwälten pro und kontra Transfusion, die die Richterin gelegentlich zur Hausmusik trifft) wird ordentlich und pointiert erzählt. Über die an sich leere Szene hat Johannes Schütz eine mal ganz, mal weniger hell ausgeleuchtete Decke gehängt – vielleicht als Option der Erleuchtung …

So viel Schmerz steckt im Stoff. Aber die Aufführung fängt in zwei pausenlosen Stunden nie wirklich Feuer. Um Julia Wieninger und die verführerisch kluge und junge Adam-Figur von Paul Behren entwickelt sich zwar ein fein gewebtes Kammerspiel, in dem alles prima funktioniert: Es wird gleichzeitig falsch und richtig geliebt, richtig und falsch gedacht. Und doch wirkt das Drama harmlos, banal, alltäglich – dabei werden doch letzte Dinge verhandelt. Ob McEwans Roman so auf die Bühne kommen muss? Ob irgendwo anders noch mehr Theater-Mut möglich ist mit diesem „Kindeswohl“?