„König Lear“ bleibt das Sehnsuchts- und Schmerzensstück aller Theatermacher. Großes Gefühl, großes Schicksal, große Ratlosigkeit. Wer knackt den Plot und kann die Sprache schlürfen? Schauspieldirektoren können selten widerstehen, die Herausforderung sich selbst zu genehmigen – in Nürnberg ist das prototypisch, denn vor Klaus Kusenberg griffen hier seine Amts-Vorgänger Holger Berg und Hansjörg Utzerath nach dem verwunschenen Drama. Letztlich sind sie im Scheitern vereint. Die aktuelle Inszenierung, unbefangen in ihren radikalen Strichen und unsicher im mehrfach harten Schnitt vom Pathos zur Groteske, setzt die Emotionen sicherheitshalber unter Anführungszeichen. Alles Theater, ob die Schwestern mit unterschiedlichen Modell-Frisuren (Elke Wollmann eisig giftspritzend, Julia Bartolome im Kreisch-Stress) oder die streitenden Herren mit wunderlichen Accessoires aus Schals, Brustpanzern und Rüschen verpackt sind. Christian Taubenheim schleicht als Special-Scheusal mit Halbglatze und Kinski-Raunen durch die Bastard-Rolle. Erst wenn der geblendete Graf von Gloster (Rainer Matschuck) und sein verstoßener Sohn Edgar (Julian Keck) wieder zueinander finden, wenn die Regie für Augenblicke ganz konventionell aufs Gefühl vertraut, hat die Aufführung faszinierende Momente. Zuvor sieht man solides Handwerk, das im Umgang mit den Übergrößen in Wort und Tat, mit der Vollversammlung der „Verrückten“, kleine Späße zur Auflockerung setzt („Das ist die Seuche dieser Zeit: Verrückte führen Blinde“ ist ein sicherer Lacher), aber schnell in Dramatik-Positur und Rezitations-Modus zurückfällt.
In der Titelrolle steckt die Tragik eines ganzen Lebens. Bei Jochen Kuhl ist es die Bühnen-Erfahrung eines halben Jahrhunderts. Vor 43 Jahren trat er in Nürnberg spektakulär als Musketier d`Artagnan ins Gefecht, rund hundert Rollen später ist er gefordert in der Paraderolle des eigensinnigen Greises, dem die Welt abhanden kommt. Das muss er sich erkämpfen, denn eigentlich lässt der topfit ins Handgemenge stürzende Akteur das Alter nur als spielerische Vermutung zu. Ob der Lear mit dem Abdanken womöglich sowieso nur kokettierte, wäre die daraus folgende, leider auch nicht behandelte Frage. Dass der Regisseur seinem Protagonisten vor der Premiere „reflektierende Art“ bescheinigte, ist so richtig wie vieldeutig. Jochen Kuhl nimmt Sprache immer als kostbares Gut, serviert auch diesmal selbst den Wahnwitz in Seidenpapier. Auf diese Weise sieht der Zuschauer nicht den im Nirgendwo verdämmernden Charakterschädel, sondern den Schauspieler, der ihn und sein Schicksal von allen Seiten betrachtet. Um es, dem Regie-Gebrauch des Abends folgend, mit einem Kalauer zu wagen: Kuhl bleibt cool. Damit ist er dann doch die passende Leitfigur für Kusenbergs-Inszenierung.
„Ist dies das verheißene Ende der Welt?“, lautet eine finale Frage. Eher nicht! In Nürnberg will es der Zufall, dass am Folgetag im Opernhaus nebenan mit der „Götterdämmerung“ der Untergang in nächster Lesung behandelt wird. Pragmatiker Kusenberg bleibt sowieso unverdrießlich auf Kurs: Für nächste Saison hat er sich bei Zweitverwertungs-Dramatiker John von Düffel eine Sondermischung aus „Coriolan“, „Julius Cäsar“ und „Antonius und Cleopatra“ bestellt – für ein Shakespeare-Projekt.