Foto: Ensembleszene © Christoph Kalscheuer
Text:Klaus Kalchschmid, am 6. März 2017
Am Ende sitzt der attraktive, aber im Innersten verderbte, intrigante Herzog Polinesso in Gestalt des verführerisch männlichen Countertenors Christoph Dumaux mit dichtem, schwarzem Vollbart, in schwarzer Lederjacke und rot-schwarzen Sneakers vorne im ersten Rang und liest ein letztes Mal – eigentlich auf der Bühne schon im Zweikampf gemeuchelt – in elegantem Französisch aus Jean-Jacques Rousseaus Pamphlet „Brief an d’Alembert über das Schauspiel“. Dazu spielt die Musik der Divertissements, die Händel ungewöhnlicherweise an das Ende der drei Akte seines „Ariodante“ von 1735 gesetzt hat. Da tanzten ursprünglich anfangs Hirten oder zum Finale „Kavaliere und Damen im Gefolge des Königs“, während am Ende des 2. Akts (Alb-)Träume der weiblichen Haupt- und Titelfigur der Vorlage („Ginevra, principessa di scozia“) auf die Bühne gelangten.
Das Regie-Duo Jossi Wieler und Sergio Morabito nutzt dagegen den „Freiraum“ dieser nur lose mit der Handlung verknüpften Stücke, um deren dramatische Essenz zu kommentieren, geht es doch letztlich darum, dass eine mutmaßlich untreue Frau sterben muss, wenn sich nicht – nach damaligem schottischem Gesetz – ein Mann findet, der ihre Ehre im Zweikampf als Gottesgericht verteidigt. Da Polinesso gegen Lurcanio, den Bruder Ariodantes und Geliebten Ginevras unterliegt, greift ihr Vater, der König von Schottland, zum letzten Mittel und steigt – in der Stuttgarter Aufführung – selbst in den mit roten Seilen marierten Ring. Doch da erscheint der totgelaubte Ariodante und spricht Ginevra von aller Schuld frei.
Wieler/Morabito konterkarien diese Handlung zunächst mit Rousseaus Mutmaßung, dass Frauen, die sich als Schauspielerinnen für Geld zur Schau, auch bald für Geld (sexuell) zur Verfügung stellen; dann mit seinem Glauben, der Schauspieler müsse sich auf der Bühne als Mensch verleugnen; und schließlich mit einer Attacke gegen damalige Theaterpreis-Politik: „Niemand wird behaupten wollen, dass das Vermögen der reichsten Besucher in den ersten Logen nur viermal so groß ist wie das der ärmsten im Parkett.“ Dazu kleiden sich die sieben Protagonisten der Oper erstmals ganz in der Mode der Händel-Zeit, während sie zur Ouvertüre noch wie zum Ringkampf in Trainungshosen und von 1 bis 7 nummerierten Kapuzenrollis auf die leere, nur von einer Bande umgrenzte Spielfläche joggten; später tragen sie zeitlose oder moderne Kleidung, aber auch schon mal elastische Masken, die wie Ritter-Helme aussehen (Bühne und Kostüme: Nina von Mechow). Über der quadratischen, immer wieder mit Bodentüchern wie im Zirkus oder fürs Ringen ausgelegten Spielfläche hebt und senkt sich eine ebenfalls quadratische Beleuchter-Brücke, in die wie eine Durchhalteparole und allem Schmerz zum Trotz der Schriftzug NEVER GIVE UP eingestanzt ist. Ein darunter hängender Zyklinder kann Namen oder fortlaufenden Text enthalten, so am Ende einen „Abspann“, der alle Mitwirkenden verzeichnet bis hin zur Technik, ein Freudenfeuerwerk zeigen oder die Wörter eines Briefes enthalten, der sonst auf der Bühne vorgelesen wird.
Das Regieduo spielt also virtuos mit den Zeiten, aber auch mit Sein und Schein, betont immer wieder, dass wir es hier ebenso mit sportlichem wie mit Theater-Spiel zu tun haben, nimmt aber zugleich die ebenso plötzlichen wie tiefen Emotionen, die aus Vorspiegelung falscher Tatsachen oder dem vermeintlichen – und nicht hinterfragten – Tod eines geliebten Menschen entstehen, zugleich sehr ernst. Da sieht man in jeder Geste und Haltung den präzisen Blick und die daraus folgende, nicht minder genau gestaltende Hand des (Schauspiel-)Regisseurs Wieler, zumal nach dem so heiteren ersten Akt mit „Scherza infida“ zu Beginn des zweiten Akts und hier am Ende des ersten Teils ein Reigen ernster Lamenti beginnt.
Es ist die zentrale Arie der Oper, in der Ariodante die vermeintliche Untreue seiner Geliebten beklagt, und es ist die vielleicht schönste, reichste und tiefsinnigste Arie, die Händel je komponiert hat. Diana Haller liegt da auf einem Podest, das aus der Untermaschinerie hochfährt und auf dem später auch der Ring aufgebaut wird, während dahinter auf einem riesigen Lamellen-Vorhang seine Albträume der untreuen Geliebten traumartig verfließende Gestalt annehmen. Die junge Mezzosopranistin singt das hinreißend voluminös und doch mit feinen Nuancen im wehmütigen, tieftrauernden Grundcharakter dieser Arie. Später trauert der König (Matthew Brook) um den Schwiegersohn in spe und Ginevra (Ana Durlovski mit großer Bühnenpräsenz und Ausdruckskraft, aber manchmal eigenartig unstetem Vibrato) um den Geliebten, Dalinda jedoch um ihre vergebliche Liebe zu Polinesso. Josefin Feiler spielt das zunehmende Irresein dieses so schändlich benutzten und dann fallen gelassenen Mädchens großartig und singt dabei mit ebenso fein gestaltendem wie verletzlichem Sopran. Ganz anders Lurcanio, dessen Liebe sie schließlich erhört: Sebastian Kohlhepp ist als kerniger und trotzdem stimmschön und plastisch gestaltender Tenor der Richtige für diese ambivalente Rolle. Polinesso, durch seine Intrige Auslöser für das Drama und zwischenzeitlich zynischer, mit Scheinwerfern seine Kollegen ins Visier nehmender Beobachter, hat in Christoph Dumaux seine ideale Verkörperung gefunden: ein Altus mit schöner, sonorer Tiefe, guter Mittellage und viriler Höhe.
Dass alle Sänger mit den Koloraturen keinerlei Probleme haben, spricht auch für eine penible Vorbereitung aller Beteiligten. Obwohl das Staatsorchester Stuttgart – hier nur 30-köpfig – dieses Repertoire äußerst selten spielt („Ariodante“ gab es in Stuttgart erst einmal, 1926), hörte sich vieles unter Giuliano Carella so geschmeidig, rhetorisch prägnant, aber samten artikuliert und dabei immer gut ausbalanciert an, so dass bei den großen Da-Capo-Arien nie Langeweile aufkam. Ein vor allem für die Rezitative eingesetztes Continuo aus Gambe (Franziska Finckh), Basse de Violon (Matthias Bergmann), Laute (Andrea Baur, Johannes Vogt) und Cembalo (Jan Croonenbroeck) harmonierte da in seinem Originalklang mit dem traditionellen Orchester stilistisch perfekt.