langes Tuch tanzt über Ventilatoren auf Bühne

„Anderssein“ aushalten

Tennessee Williams: Moise und die Welt der Vernunft

Theater:Schauspielhaus Zürich, Premiere:19.04.2024Regie:Alexander Giesche

Alexander Giesches letzte Inszenierung im Pfauen in Zürich wird zu seiner eigenen Abschieds-„Party“: Sein „Visual Poem“ nach Tennessee Williams‘ Roman „Moise und die Welt der Vernunft“ schafft breite Assoziationsräume und bezieht die Lebensrealität des homosexuellen Autors in einer marginalisierten Gruppe der US-amerikanischen Gesellschaft symbolisch mit ein.

„Die Zustände in meiner Welt sind unhaltbar geworden“, erklärt Malerin Moise in Tennessee Williams‘ zweitem Roman „Moise und die Welt der Vernunft“ von 1975 und damit, dass sie sich aus der Welt der Kunst verabschiedet. Die Werkwahl ist für Regisseur Alexander Giesche Programm, der mit 41 Jahren nun beschlossen hat, diese Inszenierung vorerst seine letzte sein zu lassen. Bekannt für seine „Visual Poems“ mit großen Bildern, viel Nebel, Stroboskop- und Lichteffekten, Video und Popmusik, die weite Assoziationsräume schaffen, wurde er mit „Der Mensch erscheint im Holozän“ neben anderen Auszeichnungen zum 57. Berliner Theatertreffen 2020 eingeladen.

Den großen Bildern entgegen steht in Giesches Inszenierungen vor allem eines: wenig Text. So wird eine Dreiviertelstunde lang bis auf ein paar Halbsätze auch hier fast gar nicht gesprochen. Nur wenige Seiten des Romans dienen als Textbasis für das ganze zweieinhalb-Stunden-Poem. Dass Setting und Szenerie sich aus der Romanvorlage und Tennessee Williams‘ Lebenswelt, geprägt durch Alkohol- und Tablettensucht in den 50ern, Depression in den 60ern – primär ausgelöst durch den Tod seines Partners Frank Merlo – ergeben, ist nicht offensichtlich. Wenn man es weiß, sieht man die Hinweise. Alles ist voller Abschiede, dem assoziativ den Abend prägenden Thema, dargestellt zum Beispiel durch Kegeln mit Koffern.

Ungleich gleich in jeder Welt

Fünf Jahre vor Erscheinen von „Moise und die Welt der Vernunft“ kommt es in der US-amerikanischen David Frost Show zu einem Outing seiner Homosexualität, die in den USA nicht nur ein Tabu, sondern immer noch strafbar war. Das Interview fand wenige Monate nach dem Stonewall-Aufstand statt, einer gewalttätigen Konflikt-Serie zwischen der LGBTQ*-Community und Polizeibeamten in New York City und bis heute Symbol des Kampfes gegen die Unterdrückung der Community.

Schauspieler in Zürich in der Inszenierung von Williams' „Moise und die Welt der Vernunft“ mit Brille und Taubenfigur in der Hand wirf mit konzentriertem Blick einen Koffer von sich schräg nach vorne links

Dominic Hartmann © Eike Walkenhorst

Giesches Inszenierung lädt das Publikum zu sehr freien Assoziationsräumen und einem eigenen Verstehen von „Abschied“ ein – all dieses Hintergrundwissen über Williams und den Roman kann, aber muss nicht vorhanden sein. Giesche erzeugt in seiner Auseinandersetzung mit dem Konzept der Gastgeberschaft einen gemeinsamen Theaterraum, in dem Zuschauer:innen und Darsteller:innen (Dominic Hartmann, Karin Pfammatter, Maximilian Reichert und Thomas Wodianka, die Giesche im Probenprozess gerne nach Williams‘ Lieblingscocktail aus den gleichen Anteilen an Gin, Chartreuse Verte, Maraschino und frischem Limettensaft zuteilte, so im Programmheft zu lesen) sozusagen gemeinsam zum Gedichtmaterial werden sollen. Ungleich gleich sind die Darsteller:innen nicht nur als Cocktailzutaten, sondern auch durch verschieden hohe Plateauschuhe (Kostüme: Felix Siwiński), durch die sie alle gleich groß werden.

Die unerhoffte U-Bahn

„Was ist die Welt anderes als Erinnerung an die Ärsche und Mösen, auf die man stand“, heißt es in dem Roman, aus dem zu Beginn nur zum Schein einer Kerze vorgelesen wird (Bühne: Nadia Fistarol). Die Party, die sie zum Verkünden ihres Abschieds schmeißt, wird zur Bühnenparty, auf der die Darsteller:innen mit Latex-Sixpack auf dem Tisch tanzen, LED-Neon Sticks im Publikum verteilen und schließlich besagten Cocktail mixen und ausschenken. Die Darsteller:innen haben dabei wenig eigenen Charakter, sind Teil der großen Bildeindrücke. Sanft und bitter zugleich kann das Einlassen auf Giesches Erzählen sein. Niemand muss enträtseln, nur auf eigene Art und Weise aushalten.

Von Anfang an dabei ist eine Taubenfigur, Sinnbild auch für das Aussätzige der queeren Community in New York, wo Williams‘ lebte. Ein Live-Stream (Video: Pata Popov) zeigt den wuseligen Times Square und im Hintergrund läuft eine Playlist von ausschließlich queeren Künstler:innen. Ein plötzlich auftretendes U-Bahn-Rauschen (Sound Design: Singh Nketia) mit passenden Lichteffekten (Licht: Christoph Kunz) eines durchschnellenden Zuges direkt vor der ersten Zuschauer:innenreihe wird von den Darsteller:innen wiederholt selbst ausgelöst, „,die unerhoffte U-Bahn‘ war Moises Bezeichnung für all diese verhängnisvollen Unachtsamkeiten“.

So wie die Welt der Vernunft in ihrer Selbstverständlichkeit Moise überfährt. Der Schriftzug „One day this kid will get larger“, angelehnt an ein Kunstwerk des US-amerikanischen Künstlers David Wojnarowicz über ein „Nicht in die Welt passen“ wird sich einbrennend und übergroß projiziert. Größer werden in einer Welt, die sich durch unverrückbare Vernunft hoffentlich nicht selbst abschafft.