Szene aus "Jenseits der blauen Grenze"

Vor uns das dunkle Meer

Swaantje Lena Kleff, Eva Bormann: Jenseits der blauen Grenze

Theater:Deutsches Nationaltheater Weimar, Premiere:24.11.2023 (UA)Vorlage:nach dem gleichnamigen RomanAutor(in) der Vorlage:Dorit LinkeRegie:Swaantje Lena KleffKomponist(in): Ludwig Peter Müller

Ungefähr 5000 Menschen haben versucht, durch die Ostsee schwimmend aus der DDR zu fliehen. Davon erzählt auch Dorit Linke in ihrem Roman „Jenseits der blauen Grenzen“. Am Deutschen Nationaltheater Weimar bringt Swaantja Lena Kleff diese Geschichte als eine beeindruckende Bilderflut. 

Vor uns liegt das Meer – aber nicht als blaue Verheißung, sondern als dunkle Drohung. Sechs Personen stehen mit dem Rücken zu uns. Sie blicken in die Ferne, atmen laut dabei – oder ist es das Rauschen des Meeres? Die Klänge, die wir hören, bekommen etwas zunehmend Drängendes. Hier ist kein Bleiben, scheinen sie zu sagen. Aber wo dann? Die Antwort liegt klar über dem Abend: Im Westen, da wo allein die Freiheit wohnt und die Geschäfte von Waren übervoll sind.

Ist das naiv? So naiv wie viele Heranwachsende in der DDR es wohl waren. Jenseits der Mauer musste etwas Wunderbares sein, schon allein, weil man uns daran hinderte, dort hinzukommen. Ja, die Rede von der Freiheit an sich, sie hat (gestern ebenso wie heute) etwas Ideologisches. Wolf Biermann hat es in früheren Tagen, als der Sozialismus in demokratischer Gestalt noch ein Thema für ihn war, dialektisch so zugespitzt: „Freiheit von Freiheitsideologie“.

Zwei Personen stehen auf einem Podest und ziehen gegeneinander an einem Seil und werden von weiteren Menschen gestützt.

„Jenseits der blauen Grenze“ erzählt davon, wie einengend sich das Leben in der DDR anfühlen konnte. Foto: Candy Welz

 

Die nasse Flucht aus der DDR

„Jenseits der blauen Grenze“, nach dem Roman von Dorit Linke in der Regie von Swaantje Lena Kleff auf der Studiobühne des Deutschen Nationaltheaters Weimar schwelgt 90 Minuten lang auf eine kaum für möglich gehaltene Weise in solcherart Freiheitsideologie. Dafür gibt es nur eine Entschuldigung: Die Geschichte bleibt jederzeit dicht an Hanna (stark in ihrem authentisch-suchenden Gestus: Raika Nicolai) und kehrt nach Diskursen über Jugendwerkhöfe und Intershops wieder zu ihr zurück. Sie trägt diese ansonsten eher eindimensionale Geschichte wie selbstverständlich durch alle Anflüge von Agitation hindurch.

Hanna und das Meer, die Ostsee, über die sie und ihr Freund Andreas (Janus Torp) von Kühlungsborn aus in den Westen fliehen wollen, nachts schwimmend bis zur Insel Fehmarn, etwa 50 Kilometer entfernt. „Wenn die Strömung mitmacht, schaffen wir es in 25 Stunden.“ Und so haben wir auf minutiöse Weise Teil an dieser Flucht, die wie der reine Irrsinn wirkt. Denn niemand, denkt man, kann so lange in der kalten Ostsee schwimmen. Und doch gab es in der Zeit zwischen Mauerbau 1961 bis zur Maueröffnung 1989 über 5000 solcher „nassen“ Fluchtversuche, von denen ungefähr 900 gelangen. Hätten sie nicht einfach einen Ausreiseantrag stellen können, wie die Familie von Sachsen-Jensi (Martin Esser), der zur Hannas Clique gehörte und dann plötzlich nach Hamburg übersiedelt? Er fehlt ihnen, lebt plötzlich auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs. Und doch wollen sie sich wiedertreffen. Nicht irgendwann, sondern bald. Vielleicht auf dem Kurfürstendamm in Berlin. Sie wollen stolz darauf sein, wie sie sagen, dass sie es aus eigener Kraft geschafft haben.

Hanna ist 17 Jahre alt und Leistungsschwimmerin in Rostock. Da erscheinen 50 Kilometer plötzlich als eine fast schon machbare Herausforderung. Und hat nicht jeder seine Art Flucht im Kopf, eine Sehnsucht, die ihn davon trägt? Der eine kultiviert seine Reise im Kopf, nährt im Sinne der Romantiker die unstillbare Sehnsucht in sich. Der andere aber schwimmt einfach los, immer Richtung Westen. Es gab auch jene, die dablieben, damit sich etwas ändert im Lande. Wer will heute darüber urteilen?

Zwei Personen in orangenen Oberteilen und Jeans stehen in Tanzhaltung auf einer blauen Bühne. Im Hintergrund gestikulieren weitere Menschen.

Die Inszenierung in Weimar wechselt immer wieder zwischen dem Schwimmen in der Ostsee und den Erinnerungen Hannas. Foto: Candy Welz

 

Beeindruckende Bilder in Weimar

Szenisch ist die arg didaktisch aufgeladene Fabel wunderbar aufgelöst. Das Schwimmduo Hanna und Andreas, von denen nur einer das rettende Ufer in Fehmarn erreichen wird, kämpft mit den Wellen und der eigenen Angst. Da hören wir dann auch, dass im „Erlkönig“ das Kind nicht wirklich in Gefahr sei, sondern vor Angst stirbt. Von Stunde zu Stunde immer die gleichen monotonen Bewegungen, die Dunkelheit – das wirkt wie die Szenerie eines Schiffsbruchs. Man klammert sich an Signaltonnen in Fahrrinnen, hofft auf vorbeifahrende Schiffe, die sie nicht bemerken, man schwimmt immer weiter und fühlt die Kräfte schwinden.

Da beginnen die Assoziationsketten aufzuflackern wie trügerische Lichter. Es sind Szenen aus der Schule mit indoktrinierenden Lehrern, die es ebenso gab wie die anderen, die geistigen Halt boten. Oder unter sich in der Clique, wo man über die Eltern und Großväter klagte, die teils Opportunisten waren, teils aufsässig gegen jede Bevormundung, so wie der Großvater von Hanna. Der stachelt sie zum Protest auf und bringt sie so in große Bedrängnis. Hanna darf schließlich kein Abitur machen, verliert ihren Studienplatz. Da versteht man dann ihren abrupten Entschluss besser, über die Grenze zu gehen, all den Ungerechtigkeiten und Bevormundungen davon zu schwimmen; komme, was da wolle.

Aber der Weg ist lang, zu lang auch für eine geübte Schwimmerin im Neoprenanzug aus dem Westen. Wie die Körper im zunehmenden Delirium sich immer weniger bewusst bewegen, die Rückblenden nur noch wie Blitze kurz durchs Hirn zucken, das zeigen die drei Schauspielerinnen und drei Schauspieler auf eine schöne chorische Weise im minimalistischen Bühnenbild von Thilo Reuther. Und immer ist da der Einzelne und das dunkle Meer, die den Atem abschnürende Angst – es nicht zu schaffen. Ein wenig ähnelt das Szenerie an Jack Londons „Der Ruhm des Kämpfers“. Dieser denkt am Ende nichts mehr. Nur sein Körper weiß instinktiv noch, dass er durchhalten muss.