Szene aus "Der Unheimliche"

Unerledigte Vergangenheit

Robert Muller: Der Unheimliche

Theater:Württembergische Landesbühne Esslingen, Premiere:22.09.2023 (UA)Regie:Mirjam NeidhartKomponist(in):Moritz Finn Kleffmann

Inspiriert von eigenen Erlebnissen erzählt Robert Muller in „Der Unheimliche“ von vergessenen Opfern der Nazis und der intakten Mauer des Schweigens. 1997 wurde das Stück für das Thalia Theater in Hamburg geschrieben, doch erst 2023 gibt es nun die Uraufführung an der Württembergischen Landesbühne Esslingen.

Ein britischer Verleger, Sir Rudolf Ulmer, wird in Hamburg geehrt, weil er sich für die deutsche Literatur einsetzt. In seiner Dankesrede outet er sich: er hat seine Kindheit bis hin zu den Pimpfen in Hamburg gelebt. Er lässt sich feiern. Aber dann tritt ein Freund aus Kinderzeiten auf und der räumt entschieden mit einem Familienmythos auf: Die Großmutter, die man auf der Flucht aus Deutschland zurück gelassen hat, ist nicht eines natürlichen Todes gestorben, sondern „verschwunden“. Und nun macht sich der Verleger auf die Suche, was seiner Großmutter geschehen sein könnte.

Geschichtsdrama mit Thrill

Robert Muller (1925-1998) entwickelt in „Der Unheimliche“ die Spannung einer Krimigeschichte: Da forscht jemand, um ein Geheimnis in der Familiengeschichte aufzuklären. Es ist dabei auch die Geschichte des Autors, die in diese Handlung hineinspielt. Sir Rudolf Ulmer forscht bis nach Riga, wo einst ankommende Juden und Jüdinnen gleich bei der Ankunft erschossen wurden – auch seine geliebte Großmutter. Diese Geschichte wird überlagert durch eine andere: Sir Rudolf Ulmer beginnt bundesrepublikanische Behörden zu befragen. Er stößt dabei auf eine Mauer des Schweigens. Nicht nur, weil niemand etwas gewusst haben, sondern auch, weil keiner eine Verantwortung für das Geschehene übernehmen will.

Je mehr er sich in die Geschichte seiner Großmutter hineinbegibt, verwandelt sich seine Suite im Hotel Metropol in ein Dokumentationszentrum. Ulmer selbst verlottert. Schließlich wird ihm von der Hoteldirektion mitgeteilt, dass er diese Suite verlassen muss. Auch in der Gegenwart gibt es keine Empathie. Robert Muller greift in „Der Unheimliche“ ein bedrängendes Thema auf. Eingespannt in eine Crime Story entwickelt er die Handlung zwischen einem kruden Fernsehnaturalismus und einem Dokudrama. Das Stück entstand 1997 als Auftragsarbeit für das Hamburger Thalia Theater, wurde aber nun erst zur Uraufführung gebracht. Und das nicht in Hamburg, sondern im schwäbischen Esslingen, an der Württembergischen Landesbühne.

Eine Mann steht inmitten von Papierstapeln. rechts und links von ihm stehen zwei Personen und schauen ihn an.

Marion Eisele hat in Esslingen einen abstrakten Raum für die wilde Suche geschaffen. Foto: Patrick Pfeiffer

 

Verspätete Uraufführung in Esslingen

In ihrer Uraufführungsinszenierung konzentriert Mirjam Neidhart die Handlungen auf die Suche nach den Spuren in der Familiengeschichte und die (gleichen) Verhaltensweisen zwischen damals (1997) und heute. Ausstatterin Marion Eisele hat ihr dabei keine Suite im Hotel Metropol nachgebaut, sondern einen abstrakten Raum geschaffen: Auf einer Schräge steht im Zentrum ein großer weißer Ledersessel, drumherum Requisiten, die das Hotelambiente verdeutlichen und Stellwände, auf denen später die Dokumente geheftet werden. So wie der Raum (und auch die Musik von Moritz Finn Kleffmann) naturalistische Stimmungen verweigert, so wird auch das Dokumentarische auf das Notwendige reduziert. Zumal sich Muller in seinem Text ausschließlich auf Hamburger Ereignisse und Personen einlässt. Diese nur so weit zu erzählen, wie es für die Darstellung der historischen Situation notwendig scheint, ist ein Gewinn für das Stück.

Ein Mann in Unterhemd sitzt zwischen Kisten und Zetteln.

Marcus Michalski zeigt, wie sich ein Mensch in einer Wahrheitssuche verlieren kann. Foto: Patrick Pfeiffer

 

Esslinger Ensemble überzeugt mit Charakterdarstellung

Marcus Michalski zeigt den Sir Rudolf Ulmer zu Beginn als selbstbewussten Weltmann, der seine Sicherheit und Überlegenheit verliert, als er sich in die Vergangenheit hineinbohrt. Der Schauspieler führt überzeugend vor, wie einem die Contenance abhanden kommt, wie da einer fast wahnsinnig in der Abarbeitung mit deutscher Vergangenheit wird. Am Ende, in sich selbst versunken, kann ihn nur seine Frau (Kristin Göpfert) in die Welt zurückholen. Eine starke Persönlichkeitsstudie von Michalski.

Christian A. Koch spielt den willfährigen Freund aus Kindertagen, der – sein Vater war Blockwart – auf dem Dachboden seines Hauses eine Reihe von Dokumenten findet und erst den Anstoß zur Suche von Ulmer gibt. Das Hotelpersonal wird von Gesine Hannemann als Hausdame, die zwischen Direktion und Gast vermittelt, angeführt. Samantha Fowler als Zimmermädchen entwickelt als einzige Empathie zu Ulmer. Lily Frank und Achim Hall vervollständigen das Personal, während Reyniel Ostermann verschiedene führende Hamburger Nationalsozialisten in Kurzszenen darstellt.

Eingebunden ist „Der Unheimliche“ in die Frage, ob man nicht aufhören könne, sich ständig mit der braunen Vergangenheit zu beschäftigen? Die Historie und die Geschichte Ulmers zeigen, wie unerledigt nach wie vor die Vergangenheit ist. Ein wichtiges Stück, eine gelungene Inszenierung!