„Oracle“, 2. Hälfte

Sinn und Sinnlichkeit

Łukasz Twarkowski, Anka Herbut, Dailes Theatre Latvia: Oracle

Theater:Ruhrtriennale/Landschaftspark Duisburg-Nord, Premiere:28.08.2025 (UA)Regie:Łukasz Twarkowski

Die Ruhrtriennale zeigt im Schauspiel inzwischen ein recht ausgedünntes Programm. Doch die Premiere von „Oracle“ in der multimedialen Regie von Łukasz Twarkowski ist ein überwältigendes, sinnliches, aufwendiges und komplexes Spektakel.

Zu Beginn der vierstündigen, in jeder Beziehung groß angelegten, international koproduzierten Inszenierung in der Kraftzentrale des Duisburger Landschaftsparks Nord steht per Ton und animiertem Bild eine kleine Spielanleitung für ein vergleichsweise einfaches Computerspiel. Doch: „The number of possibilities is infinite.“ Langsam drehen dann Menschen auf der Bühne (Fabien Lédé) ins Bild. Sie besteht neben Projektionsflächen für die Live-Videos aus sechs Podien einzelner Gebäudeteile, die (per Hand!) verschoben werden und so zu Gebäudekomplexen oder zu Bungalows werden können.

Theater für alle Sinne

Weitgehend sind die Spieler:innen des Dailes Theatre Latvia vermittelt über Bildschirme (Videodesign: Jakub Lech) aus Winkeln der komplexen Bühne zu sehen. Neben der durchkomponierten Geräuschkulisse und der fast alle Szenen rhythmisierenden digital erzeugten Musik von Julek Ploski – viel basslastiger Techno, aber auch verfremdete Barockmusik oder Jive-Musik der 1940er Jahre – erzeugt auch die Sprache des zwölfköpfigen Ensembles diverse Ebenen: Sie sprechen bei den Szenen um den Computerpionier Alan Turing und seine Arbeit für die britische Armee während des 2. Weltkriegs lettisch, was mit deutschen und englischen Übertiteln versehen wird. Wenn es um spätere Zeitebenen geht, wechseln sie aber ins Englische. Hier steht der ehemalige Google-Ingenieur Blake Lemoine und seine Warnung vor der Macht künstlicher Intelligenz im Mittelpunkt.

Die Regie des polnischen Regisseurs Łukasz Twarkowski und die Textfassung von Anka Herbut vermischen intensiv nicht nur Zeitebenen und Motive, sondern auch theatrale Mittel. Denn bei aller technischen Komposition, stehen die Schauspieler:innen durchaus im Zentrum von „Oracle“. Mit großer Intensität und Ruhe spielen sie Dialoge, wie sie in Bletchely Park stattgefunden haben könnten, als Wissenschaftler um Turing unter großem Druck versuchten, den Enigma-Code der deutschen Wehrmacht zu knacken. Basierend auf historischen Recherchen hat das Ensemble in Improvisationen Figuren und Dialoge entwickelt. Und bei aller Geschwindigkeit und Lautstärke der Verwandlungen zwischen den Szenen (und im zweiten Teil insgesamt) nimmt sich die Produktion provozierend viel Zeit für Beziehungsbesprechungen, etwa zwischen Turing und seiner Verlobten und einem weiteren Paar. Beide Szenen laufen parallel ab und sind textlich ineinander geschnitten.

Beziehung Mensch-Maschine-Mensch

So schafft die Inszenierung eine grandiose, überbordende, zahlreiche Sinne ansprechende Darstellung von Beziehungsproblemen. Und verbindet auf beeindruckende Weise die Welten von Mensch und Maschine miteinander. Anhand der fast psychoanalytisch ausgefeilten Darstellung der historischen Figur des homosexuellen Außenseiters Turing, der nach dem Krieg eine Zwangssterilisierung nicht lange überlebte, wird die Geschichte von digitaler Welt und Menschheit nicht theoretisch abgehandelt, sondern vom Nukleus her szenisch aufgeschlüsselt: Als ernstes Spiel mit immensem politischen Hintergrund.

Das schier unbegreifliche Können menschengemachter Intelligenz kann die Inszenierung natürlich nicht ganz knacken – anders als Turing, dem es (in Teamarbeit) gelingt, auf die Anfänge des Enigmas zu stoßen und das Rätsel damit zu lösen. Sie überfordert bisweilen das Publikum, wiewohl sie sich im zweiten Teil schlüssig weiterentwickelt und Motive der ersten zwei Stunden aufnimmt und zuspitzt. Die grandiosen Live-Videos erinnern nun nicht mehr an eine Kriegsfilmserie, sondern zeigen durch Computer überformte Menschenbilder. Die stehen dann auch auf dem Kopf, geraten in neue Dimensionen, während die Gebäude aus dem ersten Teil zu Gerüststangen ausgedünnt sind.

Ob nun eine Séance-Szene mit den Beteiligten wirklich eine neue Ebene ins Spiel bringt, ist zweifelhaft. Auch die Figur des von Xiaochen Wang dargestellten Fremden hat letztlich nicht genug Raum, sich über ein Klischee hinaus zu entwickeln. Isoliert bleibt seine Frage in einem kleinen Ost-West-Dialog: „You really still believe you’re the center?“ – und könnte doch ein großes weiteres Drama entwickeln.

Fehlerfreie Akteur:innen

Insgesamt ist „Oracle“ ein beeindruckendes Gesamtkunstwerk, das nebenbei einen reflektierten Blick auf unseren Kontinent wirft, vor allen Dingen aber die Unmöglichkeit von rundum konfliktfreien Beziehungen durchspielt: unter Menschen wie zwischen Mensch und Maschine. Es zeigt die Anfänge eines komplizierten, in allen Konsequenzen undurchschaubaren Verhältnisses des Menschen zu seinem Werk.

Die Schauspieler:innen agieren überzeugend, weil sie scheinbar fehlerlos in Zeit und Raum ihre Einsätze finden, während ein – irgendwie auch erfreulicher – technischer Aussetzer bei der Premiere zur teilweisen Wiederholung einer Szene führte. Vor allem aber beeindrucken die Darsteller:innen durch sensibles Spiel. „Oracle“ ist nach dem mauen Start des Festivals, ein in jeder Hinsicht großer Theaterabend.