Foto: Iris Albrecht als Mutter Stein. © Kerstin Schomburg
Text:Michael Laages, am 31. Mai 2025
Schauspieler Charly Hübner debütiert mit seiner Inszenierung von „Krieg und Frieden“: Neu erzählt von Roland Schimmelpfennig, beeindruckt der Klassiker von Tolstoi am Theater Magdeburg vor allem mit gut durchdachten Gegenwartsbezügen und ausdrucksstarkem Ensemble. Ein Kraftakt der Extraklasse!
Wer immer sich Lew Tolstois Meisterwerk vornimmt, richtet sich ein auf eine Art Marathon. Zuletzt hatte Martin Laberenz in Darmstadt Ensemble und Publikum bis an die Grenzen des Abenteuers im Theater geführt … und darüber hinaus. Auch in Magdeburg ist das so. Nur findet Autor Roland Schimmelpfennig eine neue Ordnung für das Text-Gepäck auf dieser Reise.
Diese Fassung des Materials ist deutlich szenischer, kompakt verdichtet. Immer noch höchst komplex, aber spürbar zugespitzt für die Spiel-Profile des gerade mal zehn-köpfigen Ensembles. Schimmelpfennig liefert die Steilvorlage für alle Beteiligten. Charly Hübner (Regie) schafft es, dass alle sich frei spielen – und zuweilen so überschwänglich und explosiv agieren, als entdeckten sie zum allerersten Mal den Zauberraum der „Bühne“ heißt. Das gehört immer zu den schönsten, berührendsten Momenten im Theater – einem Ensemble zuzuschauen bei diesem Akt der Entfesselung.
Lokaler Familienkonflikt
Die kleine Rahmenhandlung, die Schimmelpfennig und Hübner hinzu erfunden haben, hilft dabei. Zu Beginn feiert Frau Stein den 80. Geburtstag. Bühnenbilder Alexandre Corazzola hat ihr eine Art ästhetisches DDR-Museum als Wohnzimmer gebaut, in dem der „Multifunktionstisch“ immer noch „Mufuti“ genannt wird. Die ganze Familie besucht die alte Dame und es kracht mächtig gewaltig. Zwischen Sohn Peter, wohl einem Ex-Offizier, und dessen genervter Gattin Sibylle auf der einen Seite und auf der anderen Sohn Martin, einem Hippie von heute, Tochter Anke und Enkel Franz, der in Militärkleidung erscheint und sich auf einen Auslandseinsatz vorbereitet. Die Familie streitet und prügelt sich. Frieden ist hier selten, Krieg die Regel.
So nehmen sie die Zerwürfnisse und Kämpfe zwischen Liebe und Verlust vorweg, die gleich danach die vier zentralen Familien in Tolstois Roman wie Schimmelpfennigs Bearbeitung in ständiger Bewegung halten. Denn das ist ja der Kern der Fabel. Die russisch-französischen Kriege am Beginn des 19. Jahrhunderts, mit Kaiser Napoleon auf der einen und Zar Nikolaus auf der anderen Seite, sind die historische Folie für die Zimmerschlachten im familiären Alltag.
Über Schmerzgrenzen hinaus
Die toxische Familienfeier vom Beginn bildet letztlich auch das Finale. Nachdem alle Spielenden die eigenen Kriegs-Rollen im anrührenden Finale haben sterben lassen. Überhaupt findet Hübner mitreißende Bilder und Konstellationen für den fundamental pazifistischen Grundton schon bei Tolstoi wie bei Schimmelpfennig. Die legendäre Schlacht bei Borodino, wohl das fürchterlichste Gemetzel der napoleonischen Kriege, ist hier chorisch inszeniert – und geht an die Grenzen des Schmerz-Empfindens. Wie viel Schrecken hält die Bühne aus? Im Chor immer noch ein bisschen mehr.
Aber umstandslos lässt Hübner auch umschalten. Während die Kaiser von damals miteinander streiten auf dem beweglichen Gerüst-Podest, das Corazzola als zentrale Spielfläche für alles Kriegerische im leeren Raum platziert hat, krabbelt eine füllige Figur ganz in Grau und mit Karnevals-Kappe an die beiden heran. Das ist der deutsche Kanzler Kohl, der den Streithähnen „Diplomatie“ empfiehlt. Damit er nicht die Weltgeschichte reparieren müsse 170 Jahre später. Die Pointe ist eher klein, aber der Abend hält sie aus.
Funkelndes Ensemble
Immer stehen den handfesten Details im familiären wie politisch-historischen Fabelwerk dezent abstrakte Bilder gegenüber: in den farbstark strukturierten Kostümen von Clemens Leander und auf Corazzolas Bühne. Johannes Aue sortiert Musik dazu (ganz viel Schostakowitsch, aber auch die Beatles). Hendrik Bolz steuert ein paar Rap-Reimereien bei. Vor allem aber ist ein Ensemble zu bestaunen, das sich mit unbändiger Energie noch in die kleinsten Episoden stürzt und alles, wirklich alles feurig funkeln lässt.
Rainer Frank ist für die älteren Männer im Personal-Tableau zuständig, Iris Albrecht für Mutter Stein zu Beginn und für viele Frauen danach; und besondere Aufmerksamkeit weckt Nora Buzalka in der Rolle des jungen Pierre Besuchow. Immer wieder sind es im übrigen die Frauen im Ensemble, die das ewige Kriegs- und Kinderspiel der Jungen und Männer geißeln. Da fügen Schimmelpfennig wie Hübner den Friedenstheorien des alten Tolstoi durchaus ein paar jüngere hinzu.
Aber deutlich wird halt auch ohne ideologischen Überbau, wie sehr sich das Potentaten-Gehabe aus Napoleons Zeiten in den Posen von Herrscherinnen und Herrschern der Gegenwart spiegelt. Tolstoi, Schimmelpfennig und Hübner zeigen sehr genau den Abgrund, in dessen Tiefe die Welt gerade wieder stürzen könnte. Und auch das gehört zu den herausragenden Stärken – an einem der herausragenden Theater-Abende der Saison, die gerade zu Ende geht. Also auf nach Magdeburg!