Ensembleszene

Ritter, Räuber, Frauenehre

Josef Georg Schmalz: Floribella Herzogin von Burgund

Theater:Ritterschauspiele Kiefersfelden, Premiere:30.07.2022Regie:Philipp KurzMusikalische Leitung:Josef Pirchmoser

Im Programmheft stehen die Namen der Figuren des Stücks, aber nicht deren Darsteller. Im Theaterstadel Kiefersfelden aus dem Jahr 1833 gibt es auch kein Fotografier- und Aufnahmeverbot. Archaik und das Bemühen um zeitgemäße Akzeptanz prallen bei dem historischen Laienspiel in der einzigen erhaltenen Stätte des ländlichen Ritterschauspiels aus dem frühen 19. Jahrhundert aufeinander. Die Stimmung ist gut bei der Premiere am Samstagnachmittag um 17.00 Uhr im Dorftheater, das sein lange behauptetes Attribut „Deutschlands ältestes Volkstheater – seit 1618” erst vor kurzem zurückgezogen hatte. Während der Spielsaison von Ende Juli bis Anfang September ist der Theaterweg der oberbayerischen Grenzgemeinde festlich beflaggt. Das Giebelhaus heißt Comedihütte oder Dorftheater. Von da hat man einen traumhaften Blick auf das bayerisch-tirolische Inntal. Hier ähnelt einiges den Passionsspielen Oberammergau, mit denen die jährlich spielende Theatergesellschaft Kiefersfelden historisch zu tun hat.

Denn nur Oberammergau und das von Kiefersfelden fünf Kilometer entfernte Thiersee erhielten 1812 die amtliche Ausnahmegenehmigung für Passionsspiele. Alle anderen Dorftheatern im Großraum spielten seither Ritterschauspiele, in welche Text- und Handlungsmuster aus den früher erlaubten Legenden- und Heiligenspielen einflossen – vor allem aus den Genoveva- und Alexius-Adaptionen. Aber auch aus den Städten empfangene Abschriften, zum Beispiel Ernst Raupachs „Robert der Teufel“, Dramen und Dramatisierungen von Christian Heinrich Spieß, Josef Alois Gleich und andere Modestücke aus dem Umfeld von „Götz von Berlichingen“ und „Das Käthchen von Heilbronn“. Dieses Repertoire wurde durch Abschriften in viele Inntaler Gemeinden von Endorf bis Innsbruck verbreitet. Als die Eisenbahn den Fahrbetrieb aufnahm, kam das Publikum auch aus München.

Alles selbstgemacht von der Theatergesellschaft

Alle Generationen spielen bis heute auf der Kieferer Bühne zusammen, des Rollenbedarfs wegen weitaus mehr Männer als Frauen. „Floribella, Herzogin von Burgund“, geschrieben im Jahr 1836 vom Hausautor Josef Georg Schmalz aus Brixlegg, kommt seit 1868 bereits zum 9. Mal auf die barocke Drehkulissenklappbühne. Diese stammt aus dem Jahr 1833 und ist wahrscheinlich noch älter, weil im Eröffnungsjahr Bühnenteile aus der alten „Theaterschupfe” aus- und in das neue Haus eingebaut wurden. Unter Denkmalschutz stellen wollen sie die Kieferer nicht, weil dann nichts mehr verändert werden dürfte. Die Theatergesellschaft und deren Mitstreitende machen fast alles selbst. Die Bühnenprospekte werden von einer einheimischen Malerfamilie vorgenommen, Renovierungen und Schönheitsreparaturen erledigt man ebenfalls autonom. Aber ein weicher und der Tradition gemäßer Wandel muss sein, um die Spielfähigkeit für die Nachkommenden zu bewahren. So kommt es, dass immer wieder neue Traditionen entstehen. Zum Beispiel, dass in der letzten Pause ein Stargast, meistens aus der Kommunalpolitik, die Musikkapelle Kiefersfelden dirigieren darf. Die Musik offenbart hier einen besonderen Zauber. Unter den im Untertitel genannten „Arien und Chören“ hat man Melodramen und mehrstimmige Gesänge zu verstehen, im diesjährigen Stück auch das an der Kiefer berühmte Lied der Schmiede. Vor wenigen Jahren wurden in den Theaterbau links und rechts am Proszenium Balkone eingebaut, auf denen jetzt die Szenenmusik spielt: Alte Weisen des Inntaler Musikbund-Gründers Sylvester Greiderer von 1900 mit behutsamen Neuvertonungen des amtierenden Leiters Josef Pirchmoser. Er hat dieses Jahr auch die musikalische Direktion bei den Passionsspielen Thiersee.

Anders als Am Platzl München oder den sich auf’s Parodieren verlagerten, inzwischen scheintoten Pradlern in Wien hat die Theatergesellschaft Kiefersfelden zwar keinen blutigen, aber einen ganz tiefen Ernst für ihre „großen romantischen Ritterschauspiele“. Auch unter dem jetzigen Spielleiter und früheren Heldendarsteller Philipp Kurz spricht das Ensemble mit Ausnahme des bayerischen Kasperl ein stilisiertes Hochdeutsch mit charakteristischen Betonungen und einem leicht gutturalen Dialekt-Akzent. Die Kostüme sind eine pittoreske Mischung vom Samt, Brokat und manchmal Polyester. In „Floribella“ fehlt dieses Jahr das Nachkriegssofa, das langjährigen Besuchern so gut vertraut ist wie die Folterstreckbank, der Hinrichtungsschemel, der angerostete Schwertständer und die gemalten Dekorationen vom dunklen Kerker bis zum heiteren Strandstreifen.

Der dritte Bürgermeister gibt den Kasperl

Herzogin Floribella kommt in Nöte, als ihr Gemahl Friedrich auf Kreuzzug ist und dessen Schurkenbruder Harald sie in Verdacht des Ehebruchs bringt (das kennt man aus der Genoveva-Sage) und dann zur Flucht zu den philosophischen Schmieden zwingt (wo Floribella lebt wie Schneewittchen bei den Zwergen). Das Inkognito der Spielenden ist ein Relikt aus der religiösen Vergangenheit des Theaters und soll das Gemeinschaftsgefühl stärken. Das Spiel selbst ist wichtiger als die Spielenden. Einheimische erkennen eh, dass der dritte Bürgermeister den Kasperl macht. Und den hypnotisch Blicke werfenden Räuberhauptmann Hartmut von Falkenburg kannte man früher aus der Bankfiliale. Weil das Kolorit nicht änderbar ist, muss es bei der früher religiös motivierten Schwarzweißmalerei zwischen dem Teufel Harald und dem Engel Floribella bleiben. Dazu steht der neue Vorstand Michael Dünkel, der sich trotz des erklärten Laienstatus des Volkstheaters über eine professionelle Weiterbildung der Crew in Sachen Pyro-Effekte freut. Auf der Bühne gibt es brennende Fackeln. Und es lockt rubinrot aus der Versenkung, wenn Harald (dessen Darsteller ist ein mit den Jahren souverän gereifter Experte für bitterböse Charaktere) in die glühende Eisenschmelze fällt.

Drei Jahre konnte man wegen Corona nicht spielen. Seither machen sich auch die Ritterschauspiele wo möglich die Ideale des Genderns und Antirassismus zu eigen. Die Floribella-Darstellerin wirkt wie eine herbe Selbstbewusste, der man fast alle Jammertiraden erlassen hat. Emma ist milder und schwingt ein Langschwert mit Bärenkraft. Als „tiefschwarz“ bezeichnet der Kasperl einen der Schmiede, aber der hat kein rußverschmiertes, sondern helles Gesicht. Und das Publikum verkneift sich im Jahr 2022 das Gelächter und den Szenenapplaus, wenn infame Kerle sanfte Frauen mit Ausgeburten der Hölle gleichsetzen. Minnedienst gibt es in diesem einmaligen Dorftheater weniger, weil dessen thematische Wurzeln „nur“ bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, vielleicht noch bis zu den die Bildsprache mitbestimmenden Landsern des 30-fährigen Krieges zurückreichen. Singen können alle Mitwirkenden hervorragend. Vor allem die Männer schlüpfen in mehrere Rollen zwischen Ritter und Räuber.

Behutsame Kürzungen

Die letzte „Floribella“ im Spieljahr 2002 dauerte fast fünf Stunden, heute war man nach zweieinhalb Stunden fertig. Der Vorstand wollte beim Probenbeginn im März aufgrund der ungewissen Pandemie-Entwicklung nicht, dass das Publikum möglicherweise zu lange mit Atemschutz im sommerheißen Theater sitzen wolle. Schon Kurz‘ Vorgänger Andreas Gruber (gestorben 2016) hatte eine behutsame Verkürzung der meist am frühen Abend beginnenden Vorstellungen erwogen. Die Befürchtung, dass durch die Kürzung der Text zu schnell vorbeizieht, trat nicht ein. Aber von der satten Farbpalette des Ritterschauspiels, fehlen wichtige Teile. Gewiss können sich die Kieferer Theatermacher auf den Autor Schmalz berufen, der auf der ersten Seite seiner „Floribella“-Handschrift empfahl: „Es mag dieses Stück der einen oder anderen Gesellschaft zu lange vorkommen, aber ein jeder verständiger Direktor wird darin ersehen, dass bei den langen Monologen, vieles weggelassen werden kann! Auch den ersten Akt, wenn man will, kann man ganz entbehren. Doch ich rate, ihn wenn immer möglich, aufzuführen. Von Verfasser Elvira und Almansor 10. Stück. Preis 8 Gulden 6 Kreutzer“.

Aber zwei entscheidende Dimensionen des Ritterschauspiel-Muster fehlen jetzt. Zum einen die das Stück durchziehenden Erscheinungen eines schwarz gewandeten Knaben und einer Jungfrau, die am Ende Erlösung findet. Die einstige Prinzessin musste auf Erden wandeln, bis „ein Herzog aus Burgund seinen eigenen Bruder wegen großer Verbrechen in einen Feuerofen werfen lässt und einer Ungläubigen, die das Christentum annimmt, Schutz und Hilfe gewährt“.

Damit wäre der zweite entscheidende Strich erwähnt, der nach den Kriterien einer Diversität ohne kolonialen Anspruch schon etwas schwieriger ist. Auf dem Kreuzzug wird Floribellas gefangener Gatte Friedrich durch die Sarazenin Zulima gerettet und diese nimmt er als zum Christentum Bekehrte mit nach Europa. Dort erhält sie sogar die Anerkennung Floribellas. Da prallen die Wertkonflikte aufeinander und lösen sich in Schmelz‘ romantischen Ritterschauspielen mit heute kaum statthafter Harmonie auf. Da hat Kiefersfelden ein ähnliches Problem wie Oberammergau: Themen- und Traditionsverzicht bedeutet Verzicht auf Frauen. Das betrifft in Oberammergau Legendenfiguren wie Veronika, an der Kiefer Geisterfrauen und muslimische Edelfiguren. Deren Verlust ist bedauerlich, gerade weil die Bildwirkungen des Kieferer Dorftheaters so opulent und originär sind wie nur ganz wenige Kulturereignisse. Schon der Münchner Theaterwissenschaftler Artur Kutscher empfahl, dass alle professionellen Bühnenschaffenden mindestens einmal im Leben dort gewesen sein sollten.