Bis zu 40 Metern türmte sich die Welle auf, die nach dem gewaltigen Erdbeben am 11. März 2011 auf die japanische Küste traf und schließlich zum atomaren GAU von Fukushima führte. 3/11 lautet in Japan die Abkürzung für die verhängnisvolle Dreifachkatastrophe aus Erdbeben, Tsunami und Reaktorunfall. Im Nürnberger Staatstheater sehen wir die wohl berühmteste Welle der Kunstgeschichte: Hokusais „Die große Welle vor Kanagawa“. Als Modell wird sie zur sanft-wiegenden Melodie von Charles Trenets Chanson „La Mer“ über die Bühne gezogen. Zu Beginn der zweistündigen Aufführung sieht man sie noch klein im Hintergrund. Am Ende steht sie dann weit vorne, gewaltig und groß und doch nur ein Abbild. Hokusais Farbholzschnitt lässt als künstlerische Stellvertretung den Tsunami vor unserem inneren Auge entstehen. Nur nochmal ironisch gebrochen durch die musikalische Hymne an das Meer und seine Schönheit. Womit wir beim Thema dieses sehr komplexen und klugen Abends sind, der danach fragt, was Wirklichkeit ist, wie man von ihr erzählen kann und welche ihrer Versionen vermeintlich stimmt. Die Frage nach der Deutungshoheit ist heute ja brisanter denn je.
„Der unsichtbare Reaktor“ ist eine Gemeinschaftsarbeit des Dramatikers Nis-Momme Stockmann mit dem Regisseur Jan-Christoph Gockel. Hervorgegangen aus dem verzweifelten Kampf Stockmanns, mit den Mitteln der Kunst etwas zu Fukushima zu sagen. 2012 ist er auf Einladung des Goethe-Instituts zum ersten Mal in die Unglücksregion gereist. Hat vor Ort mit Menschen gesprochen, Filmaufnahmen gemacht, Material gesammelt. 2016 kam er wieder. Fünf Jahre später wollte er anlässlich des traurigen Jubiläums ein drittes Mal hinfahren. Diesmal gemeinsam mit Jan-Christoph Gockel. Dessen Plädoyer für ein „Theater der Reise“, das ihn unter anderem schon in den Kongo, nach Burkina Faso und Hawaii geführt hatte, schien Stockmann geeignet, das sperrige Thema endlich zum Reden zu bringen. Pandemiebedingt konnte die Reise im vergangenen Jahr jedoch nicht stattfinden. Was zuerst wie ein weiteres Hindernis bei der künstlerischen Auseinandersetzung aussah, sollte sich jedoch als Glücksfall erweisen.