Marc Beckers Infantilitätenrevue im Rahmen des Festivals "Pazz" am Oldenburgischen Staatstheater uraufgeführt.

Parade der Infantilitanten

Marc Becker: Avanti Infantilitanti

Theater:Oldenburgisches Staatstheater, Premiere:21.04.2012 (UA)Regie:Marc Becker

Da schleicht man sich endlich mal kurz hinfort aus der Kinderterrorzelle, dem turbulent harmonischen Heim, geht schön ins Theater, sucht im erwachsenen Miteinander emotionale, intellektuelle und ästhetische Anregungen – und dann das. Kindergeburtstag steht auf dem Spielplan. Wenn Marc Becker so ein Stück schreibt und selbst zur Uraufführung bringt, gibt es keine Kompromisse. Tapsig verlegen, aggressiv verschlagen, heulsusig bockig und keck schmollend krawallen sie herein, die Partygäste überreichen Sektkorken als Präsent, die mittels kindlicher Fantasie zu Star-Wars-Raumschiffen fürs galaktische Kriegspielen werden. Dotttdottt, diuuuu, pifffpaaaffff, boing, pufff, zisch uuaaaa, oing-boing. Das Libretto bleibt konsequent auf vorsprachlichem Niveau, gewürzt mit Lautmalereien der Comics. Zwischendurch werden auch Kinderlieder bis zur Unkenntlichkeit drangsaliert.

„Avanti Infantilitanti“, das ist pures Kinderrabatztheater. Ärgern, streiten, wehtun, krakeelen, ausgrenzen, herumalbern bis zum Umfallen. Rollenspielsituationen verselbständigen sich stets bis zur Eskalation und werden sofort in neue Tohuwabohu-Anlässe überführt. Ohne Andeutung einer dramatischen Entwicklung reiht Becker all das aneinander, addiert Kuchenschlacht, Sackhüfen, Topfschlagen, Grimassen-Soli und das Kammerkonzert für ein Pupskissen-Quartett. Und wenn das Altherren-Rumpelrock-Duo im Bühnenhintergrund mal funky Riffs anschlägt, sprudelt – dideldumm, sexybumm – ein Spucke-Springbrunnen aus dem Mädchenmund: Los geht’s mit Doktorspielen. Killlekille, schon ist Pipi in der Hose, dann die Nase blutig.

Darsteller und Regie zelebrieren prachtvoll diesen Kindergeburtstagsrealismus. Nur ganz dezent in Äußerlichkeiten wird die Bedeutungsebene des Abends angerissen. Die Kinderdarsteller tragen Erwachsenen-Kleidung, lesen Financial Times, plappern mal englische Worte und veralbern als Playbacksprecher eine von Kindern vorgelesene Debatte mit Karl Marxens Ausführungen zum falschen Bewusstsein. Ganz beiläufige Hinweise auf eine Kindheit, die ja längst nicht mehr den Kindern gehört, sondern zum Fetisch der Erwachsenen geworden ist, die vor dem Fluch des Alterns ihren Kult des Jungseins bis zum Kindischen treiben.

Dieses Phänomen, anderswo gern kritisch bis selbstironisch dargestellt, wird von Marc Becker spektakulös abgefeiert, um es gerade dadurch umso wirkungsmächtiger auszustellen. Denn das äußerst spaßige Infantilitätstheater funktioniert prima als 3-D-Projektionsfläche. Bedeutung erschließt sich eben nicht aus dem, was wie gemacht wird, sondern aus den Peter-Pan-Assoziationen, die von der Bühnensituation als solcher nahe gelegt werden. Wer kennt sie nicht, diese (häufig freiwillig kinderlosen) Flüchtlinge vor dem Erwachsenwerden, deren Über-Ichs einst Infantilität zu überwinden halfen, jetzt selbst infantil geworden sind und nun ebenfalls überwunden werden müssten. Statt dessen „Avanti Infantilitanti“: Leben als ewiger Kindergeburtstag endlos pubertierender Ich-will-Spaß-Greise, als Regression in abgesicherte Verhaltensmuster – erinnert an Tante Milla, für die in Heinrich Bölls Erzählung „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ an jedem Tag der Jahres der seligkeitstrunke, Realität verdrängende Heiligabend inszeniert wird.