Dominik Köninger (Graf Peter Homonay) und Thomas Blondelle (Sándor Barinkay) in „Der ‚Zigeuner’baron“

Operette im Gegenwind

Johann Strauss: Der »Zigeuner«baron

Theater:Komische Oper Berlin, Premiere:06.06.2021Regie:Tobias KratzerMusikalische Leitung:Stefan Soltesz

In der Komischen Oper kriegt der Titel einer Erfolgsoperette des Walzerkönigs Johann Strauss Anführungszeichen verpasst und heißt jetzt „Der ‚Zigeuner’baron“. Damit werden verbotene Worte demonstrativ auf den Diskurstisch zurückbefördert. Weil die mit Eifer betriebene Korrektur von Sprache und ihrer Begrifflichkeiten (allein) eben nicht die Korrektur von Geschichte oder Befindlichkeiten bewirkt. Und in Kunstwerken schon gar nicht. Regisseur Tobias Kratzer outet sich im Programmheft klar als „Gegner von Verboten gegen das Vokabular fiktionaler Gestalten“. Was natürlich einschließt, dass er den Begriff „Zigeuner“ im Kontext seiner Bedeutungen und Zuschreibungen problematisiert.

Für den Wiener Walzerkönig und die Uraufführungszeit 1885 war das weniger ein Problem. Für die Nachwelt, also unsere Gegenwart, ist es eins geworden. Im Stück sind die als Zigeuner bezeichneten exemplarischen Fremden, als die in bestehende gesellschaftliche Gefüge Eindringenden, die „Guten“. Und wenn sie für Kaiser und Reich in den Krieg ziehen, auch noch die besseren Soldaten. Auch wenn sie dauernd diffamiert werden, und Saffi nur dadurch einer Attacke entkommt, weil ihre (Zieh-)Mutter Czipra deren fürstliche Herkunft enthüllt.

Dass der zu Beginn auf seine inzwischen verfallenen Güter heimkehrende, privilegierte Weltenbummler Sándor Barinkay den Fremden gegenüber den offenen Gutsherren gibt und von ihnen dafür zum Baron, ebenjenem Zigeunerbaron „ernannt“ wird, spricht auch im Lichte der nachgewachsenen Moralmaßstäbe von heute für das Stück.

Kratzer nennt die ganze Vorlage eine „Diskursoperette“ und genau die bringt er auf die über Monate verwaiste Bühne der Komischen Oper. Er nimmt die Operette so ernst, als wäre sie eine Oper. Was sie seinerzeit tatsächlich beinahe geworden wäre und wonach das mitunter auch klingt, was Stefan Soltesz aus der Tiefe des Bühnenraumes mit dem Orchester der Komischen Oper beisteuert. Operette mit komplexem Tiefgang, aber ohne ausgestelltes musikalisches Dauerfeuerwerk. Nur mit einigen, wirklich allein (nach-)wirkenden Solonummern. Wie Barinkays berühmtes Auftritts-Couplet „Als flotter Geist, doch früh verwaist“ oder dessen vom Chor begleitetes Duett mit Saffi „Wer uns getraut“.  Thomas Blondelle als Barinkay und Mirka Wagner als Saffi statten ihre Rollen nicht nur da mit opernhaftem Format vokal eindrucksvoll aus.

Auch wenn der Schweinefürst Kálmán Zsupán damit angibt, dass das Schreiben und das Lesen nie sein Fach gewesen sind, verzichtet Kratzer auf ein Rampensolo für den betont kultiviert singenden Philipp Meierhöfer und macht daraus eine Art Werbefilm für einen k.u.k.-Großproduzenten, der mit historischer Patinaeinfärbung eingespielt wird. An solchen Stellen wird schon mit Operettenmünze ein Preis an den Diskursanspruch gezahlt. Bei anderen Szenen stellt sich die Regie aber demonstrativ hinter das Stück. Wenn es in den Krieg geht etwa und das gesamte Orchester einschließlich dem Dirigenten die Uniformen überziehen müssen und dann tatsächlich abrücken und nur drei Musiker und die Frauen zurückbleiben. Wie da die Kriegerfrauen in Sorge um ihre Männer gemeinsam (zwischen verzweifelt und ‚männlich‘-tapfer) eine rauchen, das hat anrührenden Charme. Deutlicher wird die Rückkehr der zwar lebenden, aber ziemlich lädierten Soldaten aus dem Krieg. Wenn das militärische Schlachtenhurra der Musik und Zsupáns Schilderungen seiner Erlebnisse auf dem Schlachtfeld auf diese Weise bloßgestellt werden, zeigt der Regisseur, was er kann.

In diese Kategorie fällt auch sein Grundeinfall: Er lässt die ganze Geschichte aus der Perspektive des Grafen Peter Homonay (Dominik Köninger) erzählen. Diesen Träumer von den guten alten Zeiten lädt er (durch Zusammenlegung seiner Partie mit der des gestrichenen königlichen Kommissärs Conte Carnero) zum reaktionären Spielführer auf. Immer in Uniform, offensichtlich selbst leicht traumatisiert, mit der Schnapsflasche in Reichweite, der sich demonstrativ ein Zigeunerschnitzel bestellt und darüber empört, dass man ihm jetzt auch noch sein Lieblingsgericht wegnehmen wolle. Bei seiner abschätzigen Meinung über die Zigeuner bleibt er aber unverdrossen, selbst als alle übereinstimmend berichten, dass die im Krieg die tapfersten Soldaten waren.

Auch wenn Ausstatter Rainer Sellmaier mit seiner Bühnenästhetik auf die Kargheit einer Spielfläche über dem Orchestergraben und Freitreppe in den Zuschauerraum und ein paar Architekturzitate des Prunks aus dem Zuschauerraum setzt, und sich nur einmal mit ein paar Campingzelten eine direkte Anspielung auf die Migranten-Gegenwart von heute leistet, kommt einem dabei etwa der Umgang der USA mit ihren Schwarzen Soldaten nach dem Krieg gegen Nazideutschland in den Sinn. Oder das Verhältnis der deutschen Juden zum Kaiserreich und umgekehrt.

Diese eher selten gespielte Operette als kritisches Kunstwerk ernst genommen, dabei die Nummernfolge und Dialoge nur gekürzt oder umgestellt und nicht dekonstruiert zu haben, das kann man als deutlich erkennbaren Vorzug dieser Inszenierung akzeptieren. Manch eingeschworener Operettenfreund wird bedauern, dass dabei auch ein gewisses Maß von Glanz und Glamour auf der Strecke bleibt.

Barrie Kosky hat vor Beginn der Vorstellung auf die unfreiwillig lange Probezeit verwiesen und gesagt, dass die Platzierung des Orchesters auf der Bühne und der überbaute Graben von Anfang an von Kratzer so konzipiert waren. Zumindest im zweiten Rang wurde das nicht wirklich zum akustischen Problem, wenngleich auch da kein Lorbeer für Textverständlichkeit zu vergeben wäre. Vielleicht hätte der Abend beim Publikum mehr gezündet, wenn der von David Cavelius einstudierte Chor nicht pandemiebedingt unsichtbar von der Seite, sondern von den für ihn eigentlich reservierten ersten Reihen des Parketts hätte singen dürfen. Gelohnt hat sich der Abend alles in allem aber dennoch.