"Orpheus", ein Ballett von Xin Peng Wang

Muskelspiel mit Taucherbrille

Xin Peng Wang: Orpheus

Theater:Ballett Dortmund im Stadttheater Fürth: Internationale Gluck Opern Festspiele 2014, Premiere:18.07.2014Musikalische Leitung:Marek Šedivyý

Die wohlbekannte Geschichte vom trauernden Witwer auf dem Weg in die Unterwelt beginnt mit Paukenschlägen, die der tournee-informierte Zuschauer reflexartig den Kodo-Trommlern zuordnet. Sie lässt sich schnell von der neoklassizistischen Eleganz der 1948 in New York arbeitenden Künstler-Paarung Strawinsky/Balanchine und ihrer „Orpheus“-Variante ergreifen und landet dann widerstandsfähig unter energischer Zeitlosigkeits-Behauptung immer wieder zum kurzen Zwischenstopp auf der Soundtrack-Konserve des fernen Asien. Der mythologische Blick zurück, hier vom antiken Griechenland übers Altchinesische ins theatralisch Allgemeine gelenkt, und seine Folgen: Verlöschendes Leben samt andächtiger Lichter-Prozession ins andere Dasein ergibt das effektvoll gefühlige Finale mit seiner Verheißung vom Liebes-Traum ohne Lebens-Grenzen – da muss der Komponist aus dem 20. Jahrhundert mit seiner distanzierten Sicht aufs Gefühl bereits schweigen.

Dazwischen versucht der aus China stammende und seit 2003 als Spartenchef für das dort gern zitierte „Dortmunder Ballett-Wunder“ zuständige Choreograph Xin Peng Wang mit der Uraufführung „Orpheus“ mehrere Welten zum lockeren Gedankenaustausch auf einer Ebene zu versammeln. Motto: Mythen haben wir alle, zeig mal her! Verblüffend an diesem Auftragswerk der inzwischen vom Staatstheater Nürnberg getrennten und im fränkischen Städte-Großraum weit gestreuten “Internationalen Gluck Opernfestspiele“ (nach der Uraufführung im Fürther Theater auch beim Prager Frühlingsfestival und am Opernhaus Dortmund zu sehen) ist zunächst, dass die populärste Gluck-Oper allenfalls als Gedankenstütze dient. Zur Basis aller Bewegungen wird „Musik von Igor Strawinsky und aus der altchinesischen Ming-Zeit“, nur erstere live zu erleben von der Prague Philharmonia unter der Leitung des jungen Dirigenten Marek Sedivý trotz der Intermezzo-Denkpausen originalgetreu aus dem Orchestergraben. Er macht es so überzeugend, dass er mit seinem Anteil gegen alle Abschweifungen der technisch bestens funktionierende Herzschrittmacher der Aufführung bleibt.

Genau genommen ist es aber ein Konzept-Ballett, in dem Dramaturg Christian Baier die unterschiedlichen Ursprünge der gleichen Fabel für ein Geflecht aus dem „antiken Mythos des Abendlandes“ mit der „ewigen Weisheit Asiens“ nutzte. Xin Peng Wang lässt sich davon inspirieren, aber keineswegs einsperren. Sein Titelheld (der aus Berlin kommende Russe Dmitry Semionov ist hochbegabter Streetdancer und eleganter Ballettprinz in Sondermischung) durchquert Schicksalsschläge und Weltkulturen in gelassener Souveränität. Howard Quintero Lopez tritt als Gegenspieler Aristeus mit multikultureller Pauschal-Dämonie an, für die Eurydike von Monica Fotescu-Uta bleibt poetische Pose. Weil die Wahrheit für jeden Blick anders aussehen mag, womöglich wirklich verschärfende Konturen braucht, sind allesamt (auch Götter und Furien, deren Zuordnung dem Zuschauer gar nicht so leicht fällt) mit unterschiedlichen Sehhilfen ausgestattet. Die asiatische Unterwelt zeigt Muskeln und trägt Sonderanfertigungen von Taucherbrillen. Wenn der absolut heutige Orpheus sein weniger aufwändiges Gestell verliert, ist es mit dem körperlichen Leben vorbei. Die Liebe, sagt uns jedoch die Konzept-Philosophie, überlebt im Geistigen und (sagt uns die Inszenierung) braucht keine Brille.

Xin Peng Wang inszeniert also Dreisprung um den Urknall-Mythos herum, lässt Antik-Griechenland und Alt-China auf US-amerikanisches Klassik-Bewusstsein aus europäischen Wurzeln treffen. Zum aufschreckenden Kulturschock reicht der Auftrieb der Gegensätze nicht. Choreographisch ist er vor allem auf Demonstration eigenwilliger Vielfalt bedacht, die von stilisierter Gruppen-Gymnastik über Schattenspiele fürs Schattenreich bis zur koketten Travestie traditioneller China-Folklore führt. Makellose Pas de deux-Schönheit im Detail inbegriffen. Die schärfsten Kontraste ergeben sich allerdings bei der Einspielung einer asiatischen Seufzer-Arie nach kurioser Rhythmuscomputer-Bearbeitung, wie sie jedes Disco-Sortiment zu später Stunde schmücken könnte. Da ist Strawinskys Partitur auf den Notenpulten schon zugeklappt, und das mit Recht.

Xin Peng Wang und Christian Baier haben sich also mit ihrem Projekt etwas verhoben. Ihr Puzzle aus dem zerstückelten Strawinsky-Ballett und dem eingeschobenen Inhalieren eines 19-stündigen Vorläufers der Peking-Oper in zitierten, montierten und persiflierten Minuten-Ahnungen ergibt kein schlüssiges Bild. Weil wirklich gut getanzt wurde, ertönten bei der Premiere im Fürther Theater dennoch Bravo-Rufe. Auch für den Choreographen, der die Talente seiner zwölf Solisten besser im Blick hatte als das Thema.