Yannick-Muriel Noah (Aida, hinten links) und Pavel Shmulevich (Ramfis) in Lydia Steiers Inszenierung am Theater Heidelberg.

Machtgier macht krank

Giuseppe Verdi: Aida

Theater:Theater Heidelberg, Premiere:01.10.2011Regie:Lydia SteierMusikalische Leitung:Cornelius Meister

Ägyptenland ist abgebrannt. Und was noch davon übriggeblieben ist im Bühnenbild von Katharina Schlipf, das sieht aus wie ein heruntergekommener Edelbunker: weiße Kacheln, hochherrschaftliche Flügeltüren, Art-deco-Wandlampen mit einer Galerie inmitten für die Auftritte des Königs, all das verschlissen und verschmutzt, als wäre Anna Viebrock beim Finish beratend hinzugezogen worden. Das von Cornelius Meister hauchzart und hochtransparent dirigierte „Aida“-Vorspiel und der Blick in diesen Bunker der Macht, in dem adrett herausgeputzte Sklavinnen mit Mundschutz vergeblich versuchen, alte Blutspuren zu beseitigen: dieser krasse Kontrast aus dreckiger Tristesse und reiner Transzendenz eröffnete am Theater Heidelberg, wo aufgrund der Sanierung des Strammhauses noch ein Jahr lang im Opernzelt gepielt werden muss, die Musiktheatersaison unter dem neuen Intendanten Holger Schultze.

Im Programmheft zu Lydia Steiers „Aida“-Inszenierung lesen wir, dass das Bühnenbild das Innere einer jener „Festungen“ veranschauliche, in denen in der heutigen arabischen Welt die Herrscher mit ihrem Gefolge leben. Aha. Aber sehen diese Herrscher wirklich so aus wie diese invaliden Greise in Abendgarderobe, die Steier und ihr Kostümbildner Siegfried Zoller uns da vorführen: knickbeinig, so sie nicht ohnehin im Rollstuhl sitzen; kurzatmig, wenn sie nicht gleich an der Sauerstofflasche hängen? Selbst Ramfis, die grausame Staatsräson in Gestalt des Opernbassisten, steht gleich zu Anfang in erkennbarer Atemnot vor uns und greift zur Tablette. Später scheinen die Stimmen der Priester, die aus dem Off hereindringen, allein in seinem Kopf zu tönen, scheinen ihn zu peinigen; und in einem Traumbild opfert er einen kleinen Helden zwei seltsamen Totenvögeln. Der Kleine trägt die gleiche weiße Feldherrenjacke, die auch Radamès trägt, wenn er in den Krieg zieht. Zu Anfang aber verlegt der „Hauptmann der Wache“ in einer weißen Schürze Bodenplatten über einem Bassin, das in diesem Bunker den Nil vertritt, und dessen Wasserreflexe an den Wänden für allen atmosphärischen Zauber einstehen müssen, an dem diese Partitur so reich ist. Diesen „einfachen Ägypter“ also rekrutiert Ramfis als Krieger, so wie heute einfache junge Männer von Hasspredigern als Gotteskrieger geworben werden. Über diesem Geschäft aber ist Oberpriester offenbar zum Psychopathen geworden.

An dieser Figur, die von dem jungen Pavel Shmulevich mit bestechender Treffsicherheit charakterisiert und auch außerordentlich differenziert gesungen wird, zeigt sich die Grundintention von Lydia Steier vielleicht am klarsten. Ihr geht es keineswegs um die realistische Abbildung heutiger Gewaltherrschaften im nahen Osten oder anderswo, sondern eher um die Darstellung vom pathologischen Innenleben geschlossener repressiver Gesellschaften. Politische Gewalt macht krank, nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter: Diese These illustriert die junge, 1978 in Hartford/Connecticut geborene Regisseurin mit starken Bildern und präzise ausagierten Geschichten, deren stärkste die von Anna Peshes mit rückhaltloser Entäußerung gesungene und gespielte Amneris erzählt. Anfangs noch keineswegs vom Virus der Macht angekränkelt, genießt sie geradezu den Kampf um Radamès mit Aida, weil sie glaubt, dass, wer die Macht hat, sich die Liebe schon erzwingen werde. Doch in ihrem Absolutismus verschätzt sie sich gründlich. Und als sie erkennt, dass Radamès’ Liebe stärker ist als die Lockung der Macht und die Angst vor dem Tod, da wird sie wahnsinnig daran, sucht vergeblich Trost bei Ramfis, dessen Pillenfrequenz im Verlauf der Aufführung exponential steigt, kippt sich ebenfalls mit Pillen voll, liebkost in irrer Verzückung den Leichnam des Amonasro, der hier bei der Konfrontation mit Ramfis von Radamès niedergestochen wird und fortan als Fanal der Gewalt im Nil-Bassin liegen bleibt. Und während Aida und Radamès in Ketten hinten an der Wand – dort, wo sich zu Beginn die Putz-Sklavinnen an den Blutflecken zu schaffen gemacht hatten – ihren Liebestod sterben, bekommt Amneris von Ramfis die finale Spritze. Und alle, die das gesehen haben, dürfen sich sicher sein: Machtgier ist eine mörderische Krankheit.

Aber ist man sich dessen, wenn der begeisterte Applaus für diese Aufführung nur erst verhallt ist und man morgens wieder über der Zeitung sitzt, wirklich so sicher? Wirkt nicht manches von dem, was Steier da mit starken Szenen vor Augen stellt, allzu plakativ? Kann man nicht auch bei guter Gesundheit und bester Laune ein ziemlich grausamer Diktator, ein blutrünstiger Warlord oder machtgieriger Politiker sein? Ist der Hassprediger als Psychopath nicht vielleicht doch eine zu kühne Abbreviatur des Clashs of Civilizations? Und ist nicht Verdi letztlich viel moderner als die so moralisierend Machtgier und Krankheit gleichsetzende junge Regisseurin, weil er die Grausamkeit der Staatsräson nicht aus einer Psychopathologie der Herrschaft begründet, sondern aus den objektiven Zwängen des politischen Systems selbst? Gegenüber Verdis lakonischer Präzision wirken Lydia Steiers Bühnengestalten trotz der bestechend ausgefeilten Personenführung manchmal doch nur wie Theaterbösewichte.

Die Sklavinnen dieser Bösewichte übrigens nehmen es trotz der drakonischen Zucht mit dem Aufräumen nicht allzu genau, so dass nach dem Vorspiel ein Putzeimer einsam auf der Bühne stehen bleibt: Das könnte eine kesse Anspielung auf die wohl berühmteste „Aida“-Inszenierung seit Bestehen der Bundesrepublik sein, die von Hans Neuenfels, Frankfurt 1981. Einer, der damals maßgeblich mitwirkte, saß bei der Heidelberger Premiere unter den Zuschauern: Klaus Zehelein, heute Präsident des Bühnenvereins und der Bayerischen Theaterakademie. Und es ist ja löblich, wenn junge Regisseurinnen sich zu großen Vorbildern bekennen. Neuenfels hat die bei Verdi unter der ägyptisierenden Oberfläche wirksamen politischen Mechanismen mit einer beißend scharfen Genauigkeit aufgearbeitet. Wenn also der Eimer wirklich eine Referenz war, dann ging die durchaus an die richtige Adresse.

Doch trotz solcher Einwände: Das war ein starker Start für Holger Schultze und seinen Operndirektor Heribert Germeshausen. Ein Start, der ein Signal setzte: dass es weitergeht mit der von Schultzes Vorgänger Peter Spuhler gepflegten Tradition eines zeitgemäßen, mutigen, intellektuell herausfordernden Musiktheaters in Heidelberg; dass hier weiterhin junge, talentierte Regisseure ihre Chance bekommen; dass zu einer starken Inszenierung eine starke musikalische Interpretation gehört; und dass es nicht der einzelne Star ist, auf den sich die künstlerische Strahlkraft des Hauses gründet, sondern das Ensemble. Hier muss man Germeshausen ein großes Kompliment machen: Dass er für diese anspruchsvolle Verdi-Oper ein bis in kleinste Rollen hervorragend besetztes Ensemble ans Haus holte; dass er (neben den bereits Erwähnten) mit Angus Wood einen Radamès von kraftvoller Virilität, herbem Schmelz und tadellosem Stilgefühl präsentieren konnte; mit der rund und klar klingenden, wenn auch im Vibrato flackernden und in der Pianokultur etwas undifferenzierten Yannick-Muriel Noah eine enorm präsente und ausdruckvolle Aida; mit James Homann einen nicht immer lupenreinen, aber jedenfalls markant und charaktervoll präsenten Amonasro – und dass bis auf die Sängerin der Titelpartie sie alle fest am Haus sind und ihren Partien eindruckvoll debütierten: das zeigt, dass der neue Opernmann in Heidelberg ein bemerkenswertes Händchen für Sänger hat. Garant dieses Erfolges war aber auch der GMD Cornelius Meister, der dieses noch sehr unerfahrene Ensemble – ebenso wie den von Jan Schweiger tadellos einstudierten Chor – mit enormer Souveränität führte und zwischen emotionsgeladener dramatischer Interaktion und seliger lyrischer Entrückung einen weiten Ausdrucksbogen aufspannte. Mit Heidelberg, das ist der erfreuliche Gesamteindruck dieser Eröffnungspremiere, ist weiterhin zu rechnen.