Sari Bluhm liegt auf dem Boden und schaut schmerzverzerrt in die Kamera.

Hormonchaos, Mobbing und sexuelle Gewalt

Ludger Vollmer: Frühlings Erwachen

Theater:Staatsoper Hamburg, Premiere:19.06.2025 (UA)Regie:Neco ÇelikMusikalische Leitung:Luiz de GodoyKomponist(in):Ludger Vollmer

Ludger Vollmers holt mit seinem Singspiel „Frühlings Erwachen“ Frank Wedekinds gleichnamiges Drama in die Jetztzeit. Regisseur Neco Çelik inszeniert das Stück an der Staatsoper Hamburg mit einem ausdrucksstarken Ensemble aus Nachwuchs- und Profimusiker:innen, das Vollmers Musik mit Bravour auf die Bühne bringt.

Junges, neues Leben soll der Frühling bringen, doch schon in der verfremdeten Süßlichkeit des Eingangschorals schwingt das Unbehagen mit: „Der Frühling erwacht, der Mai ruft ganz sacht …“. Sacht geht es wahrlich nicht zu in den nächsten zwei Stunden in der großen Halle auf Kampnagel, wo die Staatsoper Hamburg mit „Frühlings Erwachen“ ihre Trilogie in Zusammenarbeit mit der musikpädagogischen Initiative The Young ClassX vollendet. Nach „Erzittere, feiger Bösewicht“ und „Raus aus Åmål (Fucking Åmål)“ haben nun Komponist Ludger Vollmer und Librettist Martin G. Berger die „Kindertragödie“ Frank Wedekinds in ein fieberhaft pulsierendes Singspiel verwandelt, bei dem mehr als dreißig Jugendliche als Choristen und Solisten zusammen mit drei Sängern des Internationalen Opernstudios der Staatsoper Hamburg auf der Bühne stehen.

Emotionale Grenzwelten

Ein Wirrwarr von Metallstangen, eine Galerie in Baugerüstoptik und projizierte Straßenszenerien deuteten den unterkühlten urbanen Raum an (Bühne und Kostüm: Alexander Wolf): ein Käfig, zu starr und eng für die revoltierenden Gefühlswelten der Heranwachsenden. Da ist zum Beispiel Moritz (Timon Wiebers), der unter dem zermürbenden Widerstreit von schulischem Leistungsdruck und erwachender Libido leidet. „Ich muss lernen und leisten, stumpf sein und nicht erregt“, singt er, bevor er sich das Leben nimmt, um fortan in einem hell erleuchteten, mit transparenter Plane bespanntem Quader herumzugeistern.

Sein einziger Freund Melchior (Jonathan Skala) informiert sich per Smartphone über die weibliche Lust. Er kommt zu dem Schluss „es gibt keine Liebe, nur Egoismus“, und nimmt sich, was er anders nicht zu bekommen glaubt: Die innerlich zerrissene Wendla – doppelt besetzt mit Sari Bluhm und Rebecca Schneider –, die sich zuvor noch autoaggressiv den Arm „geritzt“ hat, wird von ihm vergewaltigt, während auch die Cluster der Bläser und das wütende Schlagwerk die Grenzen des Erträglichen ausloten.

Anspruchsvoll zugänglich

Die kurzweilige Inszenierung von Neco Çelik ist keine leichte Kost für die rund 800 Besucherinnen und Besucher – viele im Schulalter. Doch der pädagogisch betreute „Quiet Room“ im Foyer, der in der Pause Menschen zur Verfügung steht, die sich mit den verstörenden Szenen alleingelassen fühlen, wird augenscheinlich nicht in Anspruch genommen. Tatsächlich ist an diesem Premierenabend auch vieles gut verdaulich. Vor allem Ludger Vollmers Komposition, die die Klippen neu-musikalischer Sperrigkeit elegant umschifft und stattdessen mit rhythmischem Furor und melodischem Esprit mitreißt.

Manchmal klingt es wie Bizets „Carmen“, manchmal nach Ravels „Boléro“ und über weite Strecken erinnern die drängende Wucht des Schlagwerks und der archaische Duktus an Orffs „Carmina Burana“. Auch fragt man sich, warum Vollmer so ausgiebig orientalische Tonleitern und Melodielinien bemüht, die auf der thematischen Ebene des Stücks keine Entsprechung haben. Wirkungsvoll ist das alles aber schon. Zumal der Komponist es versteht, den Chor – bestehend aus Mitgliedern des The Young ClassiX Chors und der Alsterspatzen sowie dem Jugendchor der Hamburgischen Staatsoper – heraus-, aber nicht zu überfordern.

Das Gleiche gilt für die zehn jungen Solistinnen und Solisten, die an diesem Abend Außergewöhnliches leisten: in harten wie in zarten Momenten, etwa dem herzzerreißenden Duett von Mziwamadoda Sipho Nodlayiya und Alwin Gloy, die als Hänchen und Erwin ihre Liebe zueinander entdecken und ihr Coming-out feiern. Auch in dem vom Luiz de Godoy vital geleiteten rund 50-köpfigen Orchester, bestehend aus Mitgliedern des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg und des Felix Mendelssohn Jungenorchesters, treffen Nachwuchs- und Profimusiker zusammen. Stehende Ovationen gab es für diese intensive – und für viele wohl erste – Opernerfahrung.