Lieber Angeln als Schule

Kurt Weill: Tom Sawyer

Theater:Komische Oper Berlin, Premiere:18.02.2023 (UA)Autor(in) der Vorlage:John von DüffelRegie:Tobias RibitzkiMusikalische Leitung:Kai Tietje

John von Düffel ist zweifelsfrei einer der begnadetsten Librettisten des Deutschen Theaters – das hat er mit der Uraufführung von „Tom Sawyer“ an der Komischen Oper mal wieder bewiesen: verständliche Verse, semantisch wie stilistisch beglückende Wortakrobatik, knapp auf den Punkt gebracht – bis hin zum knackigen Finale nach gut zwei Stunden. Natürlich sind auch die eingängigen Songs von Kurt Weill, die als Grundlage für diese Kinderoper dienen, ein Garant für Publikumserfolg. Dazu der riesige, spielfreudige Kinderchor der Komischen Oper, ein hochkarätiges Ensemble und natürlich die literarische Vorlage eines Abenteurerromans, den man als Kind nur lieben kann: Freiheit, Freundschaft, und dazu sogar ein Mord.

Vom Schauspiel mit Liedern zur Kinderoper

Kurt Weill, 1950 im US-amerikanischen Exil verstorben, hatte sein Musical nach Mark Twains Buch zu Lebzeiten nicht beenden können; fünf Huckleberry-Finn-Songs sind überliefert, aus denen John von Düffel bereits 2014 eine Bühnenversion für Schauspielensemble geschrieben hatte. Die groß angelegte Kinderopern-Fassung wurde nun in Zusammenarbeit mit der Komischen Oper und der Kurt Weill Foundation for Music, um zusätzliche Weill-Songs erweitert, für Orchester, Gesangs-Solisten und Kinderchor von Kai Tietje arrangiert, der auch die musikalische Leitung innehat und es tatsächlich schafft, dutzende kleine und größere Kinder quer durch Bühne, Zuschauerraum und Ränge zusammenzuhalten, wo die Inszenieurng von Tobias Ribitzki zur Freude aller sich immer mal wieder hin ausbreitet.

Das Bühnensetting ist einfach wie phantasievoll gehalten (Ausstattung Stefan Rieckhoff): Der bühnengroße Vorhang zeigt das Gemälde eines Schaufelraddampfers auf dem Mississippi, kleine Inseln und begrünte Ufer – vor dieser Idylle ziehen gelegentlich Pappelemente über die Bühne: ein Schiff oder der Zaun, den Tom als Strafarbeit für Tante Polly streichen muss (oder besser: streichen lässt).

Der Kinderchor als eigentlicher Star

In seinem Holzfass erwachend, lobt Huck Finn das Nichtstun (zum Verlieben als Außenseiter-Lausejunge: Musical-Darsteller Michael Heller), während Tante Polly wie üblich ihren Tom Sawyer sucht. Tenorbariton Tom Schimon gibt die Titelrolle mit hochgradig ansteckender Spielfreude, famoser Textverständlichkeit und einem (trotz Microport-Verstärkung) nie ins Kitschige oder Angestrengte abdriftendem Stimmklang. Dieses Musical-Gast-Duo wird überwiegend aus dem Opernstudio und Ensemble des Hauses ergänzt: Nikita Voronchenko (mit wohligem Bariton als nimmersatter Ben Harper), Josefine Mindus (Toms Geliebte Becky Thatcher), Elisabeth Wrede (Amy Lawrence), Carsten Sabrowski als der zu Unrecht angeklagte Säufer Muff Potter, Christoph Späth (gruselig: Killer-Joe) und der ewige Streber des Dorfes Alfred Temple (herrlich eitel: Ferdinand Keller). So geht der bekannte Plot seinen Gang, während der Lehrer als verkappter Literat („Nur wer schreibt, der bleibt!“, köstlich: Theo Rüster) am Versuch scheitert, Tom und Huck den Sinn fürs Lernen beizubringen. Erst recht nicht, wenn die erste Liebe dazwischenfunkt oder der Reiz von Angeln am Fluss statt Pauken… Bei all dem agiert der Kinderchor als eigentlicher Star des Abends, als Schulkinder, Dorfgemeinschaft, in großen Chören – präzise einstudiert von der Leiterin des Kinderchores Dagmar Fiebach, die als Retterin der Premiere gelten kann.

Eine gerettete Premiere

Fast nämlich wäre diese ins Wasser gefallen, weil die Polly-Darstellerin Caren van Oijen erkrankt war. So gab es spontan eine dreigeteilte Polly, für die van Oijen stumm auf der Bühne agierte, die Dialoge von der Souffleuse eingesprochen wurden und Dagmar Fiebach die Songs sang. Gemerkt hat man‘s kaum!

Songspiel oder Kinderoper – eine Gattungsgrenze braucht es gar nicht in Anbetracht der temporeich ineinanderfließenden Szenen, bei denen viel Bekanntes aus der „Dreigroschenoper“ oder „Mahagonny“ anklingt. Kurt Weills finales Lebensprojekt mit dem Stoff war die Schaffung einer amerikanischen Volksoper. Nun ist „Tom Sawyer“ als deutsche Kinderoper vollendet worden, für ein Publikum aller Altersgruppen, dessen Jubel am Premierenabend kaum zu bremsen war.