Leben im Surrealen

Yazmina Reza: James Brown trug Lockenwickler

Theater:Residenztheater, Premiere:24.03.2023 (UA)Regie:Philipp Stölzl

Mit einer Fahrt im Auto fing alles an. Im Radio hörte der fünfjährige Jacob Hutner ein Lied von Céline Dion. „Blitzschlag“, wird seine Mutter Pascaline später resümieren. Er wird zum Fan und schließlich: zu Céline selbst. Er fängt an, mit Québecer Akzent zu sprechen, gibt sich selbst Interviews und lädt seine Eltern zu Konzerten ins Kinderzimmer ein, verwandelt sich Schritt für Schritt in eine singende Diva. „Wir lebten mit der Sängerin Céline Dion im Körper unseres Sohns Jacob Hutner“, erzählt der verzweifelte Vater Lionel.

Die französische Erfolgsautorin Yasmina Reza hat ein neues Stück geschrieben, das nun in der Regie von Philipp Stölzl am Residenztheater München uraufgeführt wurde: „James Brown trug Lockenwickler“, heißt es, beziehungsweise: „James Brown mettait des bigoudis“. Es basiert auf einer Erzählung in Rezas Prosaband „Glücklich die Glücklichen“, die quasi die Vorgeschichte liefert, die Verwandlung Jacobs. Im Stück nun ist diese abgeschlossen. Es spielt in der psychiatrischen Klinik, in der Jacob-Céline inzwischen untergebracht ist. „Kein Realismus“, fügt Reza der Ortsangabe hinzu und tut gut daran. Denn dieser Text, der irgendwie zwischen den Gefilden schwebt, verwehrt sich gegen allzu viel Realität wie seine beiden Hauptfiguren, Jacob-Céline und sein neuer Freund, Philippe, ein junger weißer Mann, der sich für einen Schwarzen hält.

Viele Fragen, keine Antworten

Dieses Stück stellt Fragen und verzichtet auf Antworten, es kommt nie auf den Boden der Tatsachen wie Rezas bitterböse Gesellschaftskomödien „Der Gott des Gemetzels“ oder „Kunst“. Hier gibt es keine großen Streits, keine brutalen Wortgefechte. Stattdessen: leise Verzweiflung und ebenso leise Momente des Glücks. Wie sich Juliane Köhler als Mutter Pascaline verbiegt, um an einer beinahe toxischen Positivität festzuhalten, ist ein Höhepunkt. Zwanghaft versucht sie, die neue Identität ihres Sohnes großartig zu finden. Wenn er singt, tanzt sie ausufernd zu seinen Liedern, aus ihrem tiefen Inneren kommen Geräusche, von denen man nicht weiß, ob das nun Singen, Lachen oder Weinen ist. Michael Goldberg als Vater dagegen gerät zunehmend ins Schwitzen und verkrampft, wird immer kleiner ob all der Verstellung, die ihm hier abverlangt wird, bis irgendwann aus all den Implosionen eine Explosion erwächst. Auch das ist eine formidable Körperstudie.

Lisa Wagner stattet die Psychiaterin mit einer herrlichen Extravaganz aus. Sie hat sie weg, die Resilienz (oder Abgebrühtheit?), die Pascaline und Lionel so dringend bräuchten: Sie lässt sich durch nichts und niemanden aus ihrer Ruhe und ihrem durchaus spleenigen Tagesablauf bringen. Wenn sie Auto fährt, tut sie das ohne zu bremsen („Bremsen heißt kapitulieren“), das Märchen „Aschenputtel“ deutet sie um zur Parabel über das Streben nach einer Konformität der Körper (Die Schwestern „sind im falschen Körper geboren, in der Hierarchie der Identitäten Drittweltgestalten, sie interessieren niemanden“) und hat keinerlei Problem, sich für ihr Sonnenbad einzucremen, während um sie herum gerade alles am Einstürzen ist. Die Situation ihrer Patienten sieht sie gelassen, nimmt sie, wie sie sind – beziehungsweise wie sie gerne wären. Es schwingt durchaus ein Hauch von Bewunderung mit, wenn sie den verzweifelten Eltern erklärt: „Alle beide haben sie sich von hergebrachten Typologien befreit, und keiner von beiden lässt sich von der Biologie einschüchtern.“

Surreales Ambiente

Regisseur Philipp Stölzl versetzt diese merkwürdigen Dialoge in einen von ihm selbst entworfenen surrealen Raum – und tut damit genau das Richtige. Die Spielfläche wird von deckenhohen roten und grünen Samtvorhängen begrenzt, in der Mitte hängt eine Schaukel, in der Luft schwimmen zwei gigantische Forellen durch die Luft. Was ist normal? Wer? Diese Fragen stehen hier immer im Raum. Und man darf behaupten: Die beiden, die es auf den ersten Blick am wenigsten sind, die sich neue, zu ihren bisherigen konträre Identitäten gesucht haben, sind am meisten eins mit sich.

Vincent zur Linden gibt Jacob-Céline eine zarte Durchlässigkeit, die immer wieder in die Extravaganz des Weltstars hinübergleitet. In einem Moment zieht er einen Luftbefeuchter hinter sich her und atmet die feuchte Luft für seine Stimmbänder durch eine Maske ein; im nächsten sitzt er mit seinen Eltern, die er nur noch beim Vornamen nennt, auf dem Krankenbett und fragt sie, wie es ihnen gehe. Er ist zugewandt und einfühlsam. Wie sein überlanger blauer Seidenschal schwebt er durch den Tag, mit den Gedanken schon auf Welttournee. Ganz so entrückt ist Philippe nicht: Johannes Nussbaum gibt ihm eine Brüchigkeit zwischen Sorge um seinen geliebten Feigensycorus und der zarten Verbundenheit mit Jacob-Céline. Die Hölle, das sind diesen beiden eigentlich nur die anderen. Die krampfhaft an einer Realität festhalten, die für sie längst ihre Gültigkeit verloren hat.

Dass hier nicht alles ganz ernst und für bare Münze zu nehmen ist, macht Stölzl durch kleine absurde Einsprengsel deutlich. Da spielt der Flügel wie von Geisterhand, da verdoppelt sich auch mal die Ärztin, da wird die Illusion hoch- und die Wirklichkeit kleingehalten. Dieser Abend ist keine Debatte über Identität, er ist ein Spiel mit derselben, oder, um bei der Musik zu bleiben: ein Spiel mit Thema und Variationen. Am Ende lässt Stölzl Jacob-Céline der Realität völlig entschweben. Seinen Eltern hinterlässt er ein Märchen von zwei Freunden, die zu weit voneinander entfernt leben, um einander sehen zu können. Der Klang ihrer Trommeln soll den anderen wissen lassen, dass ihr Tag ein glücklicher war. Einer von beiden trommelt. Der andere nicht. Irgendwann hört auch der Trommler auf. „Nicht, weil er keine glücklichen Tage mehr hatte, aber man kann seine Freude nicht ins Leere hinein singen.“ Jacob-Céline also verabschiedet sich von der Realität und seinen Eltern. Weil sie sein Glück nicht hören wollten. Oder konnten?