Szene aus "J'accuse!"

Kuh auf dünnem Eis

René Pollesch: J'accuse!

Theater:Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Premiere:25.09.2021 (UA)Regie:René Pollesch

Nein – auch René Pollesch kann nicht zaubern, kann nicht (wie es im Spaß dem früheren deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher nachgesagt wurde) an (wenigstens) zwei Orten gleichzeitig inszenieren. „J’accuse!“, jüngster Streich auf der Werkliste des Vielschreibers, war natürlich schon fertig geprobt, als „Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen“ an der Volksbühne Premiere hatte, die Auftakt-Inszenierung des neuen Hausherrn am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin.

Und nur weil sich Polleschs neues Berliner Team so lange bedeckt hielt mit den Plänen für den Neustart, sah es für eine Weile so aus, als starte er gar nicht zu Hause sondern auswärts in die neue berufliche Phase. Wie präsent er nun tatsächlich bleiben wird auf den Bühnen in Hamburg, München oder sonst wo, ist derzeit noch nicht abzusehen. Aber die bewährte Pollesch-Methode lässt vieles möglich erscheinen. Souffleusen (und Souffleure) jedenfalls werden weiterhin viel vergnügliche Arbeit mit ihm haben.

Verlorener Zauber

Denn das gehört ja dazu: von einem der traditionellsten Zwänge des Theaters hatte Pollesch die Protagonistinnen und Protagonisten der eigenen Inszenierungen von Anfang an befreit. Sie durften und dürfen sich schlingernd durch die Texte hangeln. Vertraute Meisterinnen und Meister verlassen sich immer sehr auf die Hilfe vom Rand der Bühne (wie Martin Wuttke gerade in Berlin) oder aus der ersten Reihe wie jetzt in Hamburg, wo Victoria Voigt gut zu tun hat mit Sophie Rois, gelegentlich sogar in kleine Dialoge verwickelt wird über das, was gerade zu spielen ist. Zeiten gab’s, da agierte zum Beispiel Tina Pfurr regelmäßig mitten in der Szenerie – die aber sind derzeit vorbei. Auch generell hat sich vieles verändert.

Die Schnell-höher-weiter-Strategie zum Beispiel hat ausgedient: nicht wie früher rasend schnell, nicht mehr beinahe delirierend liefern Mitglieder verschiedener Ensembles die Pollesch-Texte ab. So ging ein Teil vom alten Zauber flöten – der Gedanke nämlich, dass in den Phantasien des Schreibers das Denken die Richtung wechseln kann von einem Augenblick zum nächsten. Im Moment werden – in Berlin wie in Hamburg – Texte aufgesagt und abgeliefert – und das bekommt weder dem Material noch der Wirkung. Was Pollesch derzeit zu erzählen hat, klingt überhaupt nicht mehr wie getrieben und unter Überdruck, eher wie der kollektive Vortrag einer Bestandsliste aus dem Denk- und Grübel- und Spinn-Archiv. Und das alte Zauberwort vom „Diskurstheater“ ist auch nur noch ein Genre-Begriff.

Plötzlich kann das Publikum (weil es eben nicht mehr mitgerissen wird ins Quasi-Delirium) den Text im Detail überprüfen – und auch das ist nicht wirklich vergnüglich und erhellend. Bei „J’accuse!“ in Hamburg wird das vielleicht noch deutlicher als kurz zuvor bei der Berliner „Vorhang“-Phantasie. Wieder ist der Raum wichtiger als alles andere: Barbara Steiner, fast schon eine Veteranin aus früher Volksbühnen-Zeit, hat ein buntes Gebirge auf die Bühne zimmern lassen – ein bisschen Zugspitze, ein bisschen „Paramount“-Kinosignet. Oben kann die nasenartige Spitze abgehoben werden, dann qualmt das bühnenhohe und bühnenfüllende Objekt wie ein Theater-Vulkan. Es kann auch gedreht werden – das besorgen zwei orangefarbene Räum-Maschinen aus den technischen Abteilungen. Dann ist auch das Innere der Holzkonstruktion dieses Bergmassivs zu besichtigen. Von außen ist es mit allerhand gämsenartigem Berggetier bemalt, in blauen Streifen fließen links und rechts zwei Bächlein zu Tal. Fünf Frauen kraxeln hinauf und hinab. Sie tragen Cowboy-Klamotten.

Der Star ist eine Kuh

Mit ihnen sind wir eine Weile zu Gast in „Westworld“ und folgen ansatzweise Roman und Film vom „Jurassic Parc“-Autor Michael Crichton, der 1973 ein Erholungsreservat erfand, in dem Roboter für die Zufriedenheit der Gäste sorgen sollen – und das natürlich dramatischerweise irgendwann nicht mehr tun. Den zentralen Robot-Revolverhelden spielte damals Yul Brynner – diese Figur ist fürs gewaltbereite Publikum exklusiv zum Erschossen-Werden da. Bis er dann (im Film) eben selber anfängt, wahl- und ziellos zu töten.

Sachiko Hara und Sophie Rois, Marie Rosa Tietjen, Angelika Richter und Eva Maria Nikolaus ihrerseits ballern auch fleißig, fallen um und stehen wieder auf. Sie spielen die Killer-Männer aus dem Film, reflektieren zugleich aber stets auch diese Männer- und  Roboter-Rolle – und finden das zunehmend albern. Im Quintett ist Sophie Rois diejenige, die sich unablässig beklagt: über miesen Service in „Westworld“, über die eigene Rolle, über alles und jedes. „Ich klage an!“, kreischt sie unablässig, ist pausenlos unzufrieden –  also das ideale Ironie-Model für die „Generation Beleidigt“.

Irgendwann sind alle fünf mal tot und werden im Drehen des Bühnengebirges von den Räum-Fahrzeugen entsorgt; um dann als Puppen im Brettergerüst von Ankleiderinnen und Ankleidern neu ausstaffiert zu werden: nun mit ländlich-schicklichen Klamotten aus vergangenen Western-Zeiten. Und das Quintett bekommt Besuch: von „Sunshine“, einer leibhaftigen Kuh, sehr weiß mit kleinen braunen Tupfen, die Philipp Ellerbrock hereinführt. Die Damen sind begeistert, wissen aber auch genau, dass sie plötzlich völlig irrelevant sind. „Sunshine“ ist der Star des Abends und „spielt“ alle an die Wand – wie das neulich in Berlin auch der Vorhang tat.

Angestaubter Ruhm

Die Kuh zeigt, auf welch dünnem Eis der ganze Pollesch-Kosmos aktuell steht. Ist sie wieder weg, wird weiter räsoniert und gewitzelt – über dieses und jenes und (wie auch zuvor schon) über Freie und Festangestellte im Theater; auch über Intendanten (und Intendantinnen?), die doch außerhalb des Kunstbetriebs nichts auf die Reihe bekommen würden. Selbstironie? Jaja, blabla …

Polleschs Texte hatten selten „richtige“ Themen. Immer hub der Autor an zu mehr oder minder kompakten Gardinenpredigten. Irgendwann mittendrin hielt er inne – und das „Stück“ war zu Ende. Schauspielerinnen und Schauspieler haben dieses Delirium geliebt und drängelten sich danach, Teil davon zu werden. Das war der Charme der frühen Jahre. Ob er wieder zu beleben wäre? Derzeit verwaltet René Pollesch nur noch den eigenen, stark angestaubten Ruhm. Was er tut, auch mit „J’accuse!“, führt zu überhaupt nichts mehr – außer zu hybridem Tingeltangel fürs theatermodisch gealterte Publikum.

Wer mag, kann sich beklagen über diesen Niedergang: „J’accuse!“