Szene aus "Die vier Jahreszeiten"

Komplexe Beziehungen

James Vu Anh Pham, Paloma Muñoz und Lillian Stillwell: Die vier Jahreszeiten

Theater:Theater Münster, Premiere:11.03.2023Musikalische Leitung:Thorsten Schmid-KapfenburgKomponist(in):John Cage, Jackie Jenkins, Kaija Saariaho, Antonio Vivaldi

Ein großer leuchtender Ring prangt auf der Bühnenrückwand, „ein Reifen“ sagt das Kind auf dem Nachbarsitz. Zum Titel des Tanzabends „Die vier Jahreszeiten“ passt die Kreisform, wandert doch die Erde um die Sonne, und wiederholen sich die Jahreszeiten ewig. Nach der vierten folgt die erste … Doch wir wissen alle, dass diese Gewohnheit aus dem Tritt kommt, seit der menschliche Raubbau an der Erde und die immense Umweltverschmutzung das Klima verändert, also auch das Wetter, das, woran wir in nördlichen Breitengraden Jahreszeiten erkennen. „Reifen“, ein Teil des Tanzabends, holt die abstrakte Geometrie aufs Machbare, Herstellbare oder Handhabbare runter – ein angemessener Gedanke.

Natürlich erwähnt das Programmheft das „Anthropozän“, einen Aufruf an besseres Zusammenleben aller Lebewesen und dass die zwei Choreografinnen und der eine Choreograf des Abends „unser Sein im Jetzt konfrontieren (…) mit der Aussicht auf eine ungewisse Zukunft“. Bei aller Sympathie und löblicher Ambition ist das doch (auf die Kunst bezogen) einen Hauch beliebig.

Durch konkrete Umsetzung gewinnt die neue Tanzchefin am Haus, Lillian Stillwell, hier Punkte. Sie will den Tanz nah an Publikum beziehungsweise Stadtgesellschaft heranrücken, also auch mal außerhalb der Bühnen platzieren. Und um den Materialverbrauch zu schmälern, nutzen die Tanzstücke ein „Einheitsbühnenbild“ von Stella Sattler und Jonathan Brügmann aus stapelbaren Klötzen mit Ecken und breiten Rundungen.

Schon vor Vorstellungsbeginn füllt die Zuschauermenge das Foyer, weil dort ein Tänzertrio umhertapst, als sei es auf einem fremden Planeten gelandet. Knibbelt an einer Säule, zieht heftig an unsichtbaren Seilen, mal hier, mal da. Bis die drei entdecken, dass noch ein andere Trio existier, das an den anderen Enden ziehen durch eine Glaswand hindurch – eine schöne Pointe. „Prologue“ ist das erste Stück, das der in Belgien lebende australische Tänzer James Vu Anh Pham je für ein Ensemble choreographiert hat. Dem Nachwuchs Chance zu geben, dient ebenfalls der Nachhaltigkeit.

Jubel trotz wenig Spannung

Stillwell stammt aus Minneapolis und studierte in Minnesota Ballett. Vor der jetzigen Leitungsposition war sie Tänzerin am Staatstheater Kassel bei Johannes Wieland und choreografierte dort und an anderen Häusern hauptsächlich für Opern- und Musicalproduktionen. Ihren Einstand in Münster gab sie mit „Furien“. „Die Vier Jahreszeiten“ bejubelt das Publikum im ausverkauften Großen Haus und steht sofort auf zum Applaus.

Dabei ist die Choreografie mau: Was die Spannung diese 50 Minuten lang hält, ist die Musik. Das klein besetzte Sinfonieorchester Münster lässt Dirigent Thorsten Schmid-Kapfenburg einen Hauch historisch informiert spielen. Den Vivaldi – endlich mal nicht die Max-Richter-Version der „Vier Jahreszeiten“, die so viele Choreographen benutzen – entkleidet er seiner Hit-Eingängigkeit oder -Süffigkeit: zuweilen fast abgehackt, auch sehr leise und den fast vibratolosen, zarten Klängen der Solovioline von Midori Goto nachhorchend, oder brausend und stürmend, aber nur für eine Weile, bis der Wind sich legt.

Die zehn Tänzerinnen und Tänzer sind ständig auf der Bühne, welche die niedrig gestapelten und aneinandergelegten Klotzelemente zu einem offenen Platz machen. Auf dem Mäuerchen wird viel gelegen und gesessen, was manchmal wie Langeweile aussieht. Vielleicht ist Eins-Werden mit der Umgebung-Umwelt gemeint. Auch wenn zuweilen Tänzer wie Klümpchen, Steine oder Samenkörner am Boden liegen oder (ausgestreckt) eine Wegbegrenzung bilden. Aber es weckt den Gedanken an Diktatur.

Nähe finden

Dabei sind hier eigentlich alle immer nett miteinander. Treiben als Gruppe langsam quer über den Platz. Nochmal und nochmal. Tanzen als Gruppe, mit allen oder fast allen, unisono etwas Schwungvolles mit schnellen kleinen Schritten, schneidenden Armen und Drehsprüngen um den schräg gelegten Rücken herum. Je häufiger wiederholt, desto weniger sagt das aus.

Beim „Winter“ allerdings ziehen alle die Köpfe ein, halten sich mit gekreuzten Armen vor der Brust warm, stellen die gebeugten Beine ganz breit. Werfen sie dann noch, so gebückt, die Fäuste wie gegen eine große Tür, erinnert das an den Style des britischen Choreografen Hofesh Shechter – allerdings ohne dessen Schneidigkeit.

Ewas gewinnender sind Stillwells Zooms auf Zweier- und Dreierbeziehungen. Da tragen die Partner einander auf dem Arm, dem Rücken, quer über der Schulter, sogar kopfüber gekippt, oder lüpfen den anderen, schubsen plötzlich, umarmen, gehen weg. Das passiert einfach, Leben im Zeitraffer. Winzdramen, Winzlieben. Alles mehrfach. Wobei sich hier sozusagen jeder mit jedem paart. Schon die erdbraunen und -beigen Hosenanzüge verwischen Geschlechterunterschiede.

Die großartigste Szene ist die stillste: Die zehn stellen sich an der Bühnekante auf, in Reihe, kaum merklich zu Grüppchen sortiert wie Familien. Eine Hand auf einer Schulter, eine andere an einer Taille. Nähe und nahe Distanziertheit. Ernste Gesichter fürs Foto. Jemanden sacht zur Seite schieben, Plätze wechseln. Die Blicke sind auf uns gerichtet, wie aus einer Vergangenheit oder vielleicht Zukunft.

Musik in Bewegung

Mut zu Kunst und weniger Konfektion zeigte die Spanierin Paloma Muñoz mit „The Station“. Zum zittrigen und immerzu verlöschenden Geigenklang von Kaija Saariahos „Nocturne“ regt sich ein Tänzer auf einem Podestchen, ähnlich verwundert wie seine Vorgänger aus dem Alien-Prolog im Foyer. Krümmt sich, streckt ein Bein, stellt Füße auf, legt eine Faust ans Ohr, zupft am Brustkorb. Als wüsste er nicht, was dieser Körper ihm soll. Ähnlich normalitätsvergessen ist die folgende Schar, deren Einzelteile eine spielerische Gegenwärtigkeit verbindet. Nur machen, nicht wollen.

Sie hängen Haare über Mauerkanten oder sich selber, lassen Strumpffüße in die Höhe ragen, Körperteile rucken, wellen, sie bellen auf allen Vieren, balancieren wie unerschütterliche Statements auf einem Bein, betonen Hintern, fügen Körper aneinander wie Kopien, reiben Nasenspitzen aneinander, tupfen mit Händen. Das alles ist der Musik abgelauscht und dialogisiert mit ihr, im Leisen, im Leichten, Bröseligen, beim Verbinden, Verfließen und Lärmen: „The Season“ von John Cage, das er 1947 für eine Choreografie von Merce Cunningham komponierte, für Orchester. Klänge sind Ereignisse, Tanz auch, was immer Tanz ist oder sein will oder ein Mensch, der tanzt.