Jabu (Maximilian Schaible) und Alva (Lola Merz Robinson) stehen im Vordergrund und blicken in die Ferne. Im Hintergrund ist Carmen Yasemin Ipek am Schlagzeug zu sehen.

Darf es nur ein Märchen sein?

Kirsten Boie: Der Hoffnungsvogel

Theater:Junges Ensemble Stuttgart, Premiere:09.11.2024Regie:Grete PaganKomponist(in):Hêja Netirk, Carlos Andrés Rico

Grete Pagan inszeniert am Jungen Ensemble Stuttgart Kirsten Boies utopischen Roman „Der Hoffnungsvogel“ als Musical: Ein Abend voller wunderbar rockiger Songs, die von Angst, Mut und Hoffnung auf eine freundlichere Welt erzählen.

Im „Glücklichen Land“ gehen alle freundlich miteinander um. Es gibt keinen Streit. Jeder liebt seine Arbeit und seine Mitmenschen, weil es in diesem Land keinen Reichtum und keine Armut gibt. Eine solche Utopie braucht ein Symbol, den Hoffnungsvogel, der mit seinem zauberhaften Gesang mögliche Konflikte im Keim erstickt. Doch verschwindet dieser Vogel eines Tages. Zunächst bemerkt es niemand, aber dann werden die Leute unfreundlich und streitsüchtig.

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Die Glückliche Königin schickt ihren Sohn Jabu auf die Suche nach dem Hoffnungsvogel, der, wie wir später erfahren, von Piraten entführt wurde. So beginnt seine Reise über viele Stationen, die ins Land jenseits des Meeres führen. Angeleitet von Alva, der Tochter der Leuchtturmwärterin, und Cho, dem Fischermädchen aus dem Land jenseits des Meeres, erlebt der Prinz das Abenteuer, seine Angst in Mut zu verwandeln. Nebenbei befreien sie eine Prinzessin von ihrer Traurigkeit, dann die von den Piraten festgehaltene Alva, bis dann der Hoffnungsvogel wieder über dem glücklichen Land seine Melodien singt.

Mut durch Musik

Kirsten Boie mischt in ihrem Mut machenden Roman „Der Hoffnungsvogel“ aus dem Jahr 2022 märchenhafte, utopische und parabelhafte Strukturen mit einer direkten Leser:inneransprache. Dabei spielt die Musik eine entscheidende Rolle. Denn nicht nur der Vogel schafft es mit seinem Gesang, die Menschen zu befrieden, sondern auch die Leuchtturmwärterin gibt Alva und dem Prinzen eine Melodie mit auf den Weg, die den Kindern immer wieder in bedrängenden Situationen Mut macht. Da liegt es nahe, für das Theater eine musikalische Fassung zu schaffen. 

Am Jungen Ensemble Stuttgart entwickeln Grete Pagan, die auch Regie führt, und Christian Schönfelder den „Hoffnungsvogel“ als „musikalische Erzählung“, womit gesetzt ist, dass diese Fassung weniger dialogisch konzipiert ist, sondern eher den Erzählstrukturen von Kirsten Boie folgt. Aber in Stuttgart ist mehr als eine „musikalische Erzählung“ entstanden, ein fetziges Rockmusical mit starken Songs und lyrischen Einlagen, wenn der Hoffnungsvogel durch Hêja Netirk Melodien in die Welt schickt, sehnsuchtsvoll und manchmal auch traurig: Netirk entwickelt dabei eine starke Ausstrahlung, die von einer optimistischen Welthaltung bestimmt wird.

Musikalische Bühnenstruktur

Aber auch Carmen Yasemin Ipek an den Drums, Lola Merz Robinson und Maximilian Schaible mit ihren Gitarren, sowie Carlos Andrés Rico, der auch zusammen mit Netirk die musikalischen Kompositionen und Arrangements kreiert hat, an den Keyboards entwickeln einen ungeheuren Drive. Unterstützt wird das ganze vom Szenenbild der Anne Hölch: links ein Podest mit den Drums, rechts eines mit den Keyboards, im Hintergrund Ständer für drei Gitarren und ein Stapel an Lautsprecherboxen, sowie drei Mikrofone im Vordergrund. Über allem türmt sich ein großes Zelt, das das Ensemble im Spiel per Schnüren ständig verwandelt und damit immer neue Spielorte schafft. Es gibt nur wenige Momente des Innehaltens im Tempo dieser Inszenierung von Grete Pagan. Wenn einer gelingt, dann wirkt er stark, so, wenn Lola Merz Robinson als gefangene Alva plötzlich begreift, dass sie nun ganz allein mit den Piraten ist.

So stark wie die Musik von Netirk und Rico wirkt aber noch ein weiteres Kunstmittel: Pagan lässt die Spieler:innen und Musiker:innen abwechselnd in Deutsch und ihren Sprachen – Kurdisch, Spanisch, Englisch – sprechen, die eine ganz eigene Musikalität in die Handlung hineintragen. Da ist am Jungen Ensemble Stuttgart eine spannende Inszenierung gelungen, die sich noch einspielen muss. Fest steht, dass sich hier ein großer Stoff von Kirsten Boie in ein Musical gewandelt hat, das nicht nur in Stuttgart Erfolg verspricht.