Devid Striesow und Ursina Lardi in "Karamaso" in den Sophiensälen

Karamasow pur

Thorsten Lensing: Karamasow

Theater:Sophiensäle, Premiere:04.12.2014 (UA)Vorlage:Fjodor Dostojewski: Die Brüder KaramasowRegie:Thorsten Lensing

Karamasow ohne Krimi, und auch ohne Brüder: Um Dostojewskis Übertausendseiter auf Theaterlänge zu bringen, lässt Thorsten Lensing den Vatermord und die Gerichtsverhandlung außen vor und fokussiert auf den Jüngsten. Den Klosterbruder Alexej „Aljoscha“ Fjodorowitsch nennt auch Dostojewski seinen Helden. Einen Sonderling, wenig bemerkenswert oder bedeutend, der dennoch „den Kern des Ganzen in sich trägt“ und zum Stellvertreter einer Epoche taugt. Nicht nur ihn, alle Figuren in den von Lensing ausgewählten und mal dialogisch, mal monologisch aufbereiteten Romanszenen reißt es zwischen Glauben und Zweifeln hin und her. Selbstlos liebend und grausam sadistisch sind sie, diese menschlichen Exempel – vor allem die Jungen: Kolja (Sebastian Blomberg) und Iljuscha (Horst Mendroch) sind tief verbundene Freunde und bewerfen einander erbittert mit Steinen; Lisa (Ursina Lardi) ist Aljoscha schwärmerisch zugeneigt und quält ihn mit (Selbst-)Mordphantasien; Iljuscha steckt seinem Hund einen Nagel ins Brot, verteidigt aber rückhaltlos den öffentlich gedemütigten Vater (Rik van Uffelen). Kinder, Tiere, Glaubensfragen, so bringt das Programmheft die Auswahl auf den Punkt.

Doch trotz der textlichen Konzentration – es ist Romaninhalt im vermutlich niedrigen einstelligen Prozentbereich verarbeitet – strebt in der Inszenierung alles auseinander: „Karamasow“ findet nicht zum Kern des Ganzen. Dem temporären All-Star-Ensemble fehlt der innere Zusammenhalt, fast wirkt es, als würde die Spielfassung lediglich bewältigt. Peinsam verloren wirken diese gestandenen und auf der Bühne dauerpräsenten Schauspieler mitunter, und für viele von ihnen heißt es über weite Strecken der dreieinhalb Stunden: Warten auf das Go.

Natürlich gibt es noch immer genug zu würdigen an diesem Haufen Hochkaräter. Sebastian Blomberg ist Kolja, ein knapp 14-Jähriger mit einem reizenden, wenn auch verdorbenen Naturell, der sich mit pubertärem Größenwahn als Erwachsener geriert und mit dem fünf Jahre älteren Aljoscha in einen speichelleckerischen, liebesähnlichen Wettstreit tritt. Kapitelüberschrift bei Dostojewski: „Früh krümmt sich“. Zwei Monologszenen hat Blomberg, mit seinem Hund Pereswon, den André Jung mit tierischer Hingabe und sturer Komik kläffen, toben, schnüffeln, apportieren lässt. Hündisch blinzelnd steht er neben seinem neuen Herrchen (es ist Iluschas Hund, nach dem Nagelbrot) und dient der Effektverstärkung. Wie Blomberg als Muttersöhnchen das Publikum charmiert und nebenbei den Hund anblafft, wie er sich echauffiert über Lisa, die seinen triumphalen Mutproben-Monolog vom Unterm-Zug-Liegen mit effektvollem Tuten noch anschaulicher gestaltet und ihm die Show stiehlt, das bringt diese noch nicht auf eine eigene Tonhöhe gekommene Figur zum Schillern.

Ernst Stötzner braucht etwas mehr Anlauf, um seine betont jugendliche Witwe Mme. Chochlakowa in Fahrt zu bringen, aber dann überrollt er Devid Striesows Aljoscha mit einem Monolog. Mit hochironischer Distanz zu seiner Figur und in betont männlicher Diktion kommt er vom Hölzchen aufs Stöckchen: vom Verwesungsgeruch des verstorbenen Starez Sossima (André Jung), Aljoschas Ersatzvater, auf die Gerichtsverhandlung, das kranke Füßchen, das ein Liebhaber bedichtet hat, oder die hysterischen Anfälle ihrer tyrannischen Tochter Lisa (Ursina Lardi), Aljoschas vorübergehender Braut, die dieser auszuspionieren hätte. Virtuose Verbalgewalt. 

Aljoscha aber: Windet sich und schweigt. Ein jeder kippt seinen Seelenmüll über das mönchische Jüngelchen, bis es schluchzend zusammenbricht. Doch Devid Striesow kommt der Figur nicht recht auf die Spur: Rein äußerlich angelegt wirkt das, was er mit kunstvollen Sprechpausen, flottem Beinewerfen oder ungläubigem Starren übergroß darstellt. Von selbstloser Liebe und Hingabe kaum ein Hauch, und von Beginn setzt sich Striesow auf alle möglichen Kalauer: Da wird Lisa von der „Märtyrerin“ gar zur „Mehrtürerin“, wenn es das müde Ohr richtig erlauscht hat. 

Denn der Text rauscht vorbei, irgendwann auch die Brüllattacken und Zärtlichkeitsaffekte. Die schlussendlich rührselige Begräbnisszene und Aljoschas Aufruf, sich der gemeinsamen Zeit und Iljuschas auf immer zu erinnern, wirken nur noch schal. Über all die Stunden scheint kaum einmal eine tiefer durchdrungende innere Dimension auf, obwohl es doch um die letzten Dinge geht. Sollte „Karamasow“ eigentlich von der Komik und Unverfügbarkeit des Lebens handeln, so zeigt die Aufführung eher die momentane Unverfügbarkeit von Dostojewskis meisterlichem Wimmelbuch für Lensings Truppe. Der Premierenapplaus in den Berliner Sophiensaelen klingt höflich.