Regisseurin Bettina Bruinier, die zuletzt in Nürnberg mit dem „Käthchen von Heilbronn“ einen ebenfalls kaum zu bewältigenden Text ganz gut hingekriegt hatte, lässt „Die Schutzbefohlenen“ erst mal mit flankierenden Maßnahmen im theatralischen Aufnahmelager stranden. Die Schreckensbilder der Flüchtenden sind zu riesigen Illustrationen vergrößert (Video: Clemens Walter), irgendwo wird der Zusammenhang von Freiheit und Pizza beschworen, ein Klagechor stimmt „Komm süßer Tod“ wie von einer eiernden Platte an, auch Helene Fischer schwebt atemlos als Show-Ufo im Bühnenhimmel. „Das Mitleid hat mich übermannt“, sagt ein Mann. „Das Leben ist so schön“, seufzt die Sängerin. Aber überall dieser Unrat! „Da ist guter Rat teuer“, kontert Jelinek giftig. Ihre Wut kennt keine Obergrenze.
Sieben Schauspieler sind im Einsatz für das Stück, das kein Stück sein will und glücklicherweise auch nicht dazu gezwungen wird. Äußerlich Individualisten in Polohemd oder Strickjacke, modisch auf Stöckelschuh oder im Frack, verschmelzend zum Volk beiderseits der Front. Sie wissen noch nicht, ob sie Freiheit „achten oder ächten“ sollen, ob sie Menschenwürde hoch halten müssen oder nur Smartphones. „Wo werden wir übermorgen sein?“, fragen sie in der Rolle der Migranten. Für diese Aufführung ist es ein Segen, wenn die Technik allmählich beiseite bleibt und die Wucht der Worte im Chor-Kollektiv ungestört aufbrausen kann. In der Einstudierung von Bettina Ostermeier wird mächtiger Klang aus der Rede, lernen die Jelinek-Formulierungen das Fliegen. Thomas Nunner ist im Ensemble so etwas wie der altväterliche Vordenker ohne Nachdenken, sprachlich brillant auf die gebrochene Pointe gesetzt. Auch die anderen Akteure (Julia Bartolome, Mareile Blendl, Bettina Langehein, Frank Damerius, Daniel Scholz, Philipp Weigand) entfalten größte Wirkung, wo sie ganz auf Sprache konzentriert sind. „Ausdrucksstark“ darf man leider nicht sagen, das erinnert Frau Jelinek an Zitronenpressen.
Natürlich bleibt es nicht aus, in diesem Endlosband von Formulierungs-Attacken, die ihr geistreiches Wissen nicht selten im Kalauer-Knockout aufs Spielsetzen, auch mal genervt zu sein. Ja, manchmal geht man in Deckung vor dem Beschuss. Doch das wird bravourös ausgeglichen, wenn am Ende einer der überfallartigen Wortschwall-Kunststückchen die Frage steht „Was sagt Europa“ – und danach minutenlang Schweigen eintritt. Ein so vielsagendes, wie es nur eine Literaturnobelpreisträgerin schaffen kann.
Die Nürnberger Inszenierung der „Schutzbefohlenen“ bleibt weit entfernt von Nicolas Stemanns verwackelter Uraufführungs-Ambition mit den „echten“ Flüchtlingen, hält aber auch Abstand zum Event-Rundgang, den das Berliner Gorki-Theater daraus machte. Sie strampelt sich nach und nach, wenn alle Selfies gemacht und alle Interaktionen im Parkett abgehakt sind, frei von kabarettistischer Kleinkünstelei und findet über den Sog der Sprache zurück zum Theater-Großformat, in dem man als Zuschauer immer noch mehr vermutet als zu erkennen ist. Überforderung ist das nicht, Herausforderung schon. In ihrer Coda, dem neuen Anhang, schreibt Jelinek, sie möchte den Tag erleben, „an dem wir keinen Zorn mehr brauchen“. Sie wird ihn natürlich nicht erleben. In Nürnberg, wo schon mit Stefan Ottenis „Kontrakte des Kaufmanns“ vor Jahren eine grandiose Alternative zum Uraufführungsmodell gelungen war, wurde das auch diesmal deutlich und dafür bekamen Bettina Bruinier und das Ensemble lang anhaltenden Beifall.