Ivana Langmajer als Ebba in der Anfangsszene von „Momentum“

Hinter Glas

Lot Vekemans: Momentum

Theater:Wolfgang Borchert Theater, Premiere:04.06.2020Regie:Tanja Weidner

Ausnahmsweise ist von zweierlei zu berichten. Von einer Premiere. Wie üblich. Und von der Tatsache, dass überhaupt eine stattgefunden hat. Im Theatersaal. Vor Publikum. Mit Hygienekonzept.

Bei Eintritt in das Foyer wird man – natürlich im übertragenden Sinne – bei der Hand genommen und zu einem Tisch geführt. Bei Niederlassen darf man sich der Maske entledigen. Später kommt dieselbe Betreuerin wieder und führt einen an den Platz im Zuschauerraum, in denen dann nach und nach alle 30 Zuschauer geführt werden, in einer Art diskontinuierlichem Ringelreihen (natürlich, bis zum Erreichen des Sitzplatzes, wieder in Masken). Viermal an vier aufeinanderfolgenden Tagen ereignete sich dieselbe Prozedur, die vorläufig wohl nicht nur im Wolfgang Borchert Theater die Regel sein wird, anlässlich derselben Aufführung. Denn das Theater hat über 90 Premierenabonnenten, was bei der momentanen Kapazität vier Premieren nötig macht, um jedem Abonnenten den Besuch zu ermöglichen. Die Premiere übrigens war ursprünglich für den April projektiert. Die Proben hatten vor dem Shutdown begonnen, wurden dann per Videokonferenz fortgeführt und in einer kurzen Endprobenphase finalisiert. Sichtbares Ergebnis von historischer Entwicklung und Probenprozess sind Plexiglasvisiere, mit denen auf der Bühne umgegangen wird, als wären es Brillen.

„Momentum“, 2018 in Düsseldorf aufgeführt und in der aktuellen Spielzeit auch in Detmold, Erlangen und am Gostner Hoftheater in Nürnberg inszeniert, passt großartig zur aktuellen Lage. Was Stück und Autorin nach der Uraufführung, durchaus nachvollziehbar, vorgeworfen wurde, nämlich flache, wenig fundierte, plattitüdenhafte Gesellschaftkritik, hört sich mit Virus deutlich anders an. Für Momente glauben wir fast, einer auf die aktuelle Situation gemünzten Situationsbeschreibung zuzuhören und -sehen, etwa, wenn davon gesprochen wird, dass man den Zustand einer Zivilisation daran messen könne, wie sie mit ihrer Kultur und ihren Künstlern umgeht, wenn das ungeborene, tote Kind konstatiert: „Es sind merkwürdige Zeiten. Man hört das Krachen und das Reißen“ oder Politberater Dieter beruhigend von sich gibt: „Hier drinnen sind wir sicher“. Vor Tische las man’s anders. Lot Vekemans‘ Text ist zweifelsfrei Relevanz zugewachsen.

Die Aufführung beginnt stark. Ebba, die ambitionierte Frau des Regierungschefs, probt eine Rede, um ein Versagen ihres Mannes in einen Sieg zu verwandeln. Der Schauspielerin Ivana Langmajer ist die Gabe der Rede in hohem Masse verliehen. Gemeinsam mit der Regisseurin Tanja Weidner gelingt es ihr, den Zuschauer mit ihrem rhetorisch geschliffenen, unterschwellig emotional aufgeladenen, oberflächlich sehr ruhigen, sehr sonoren Vortrag an ihre Figur zu fesseln. Wir gehen mit ihr, mit ihrem Ehrgeiz, ihrer Ambition, ihrer Leidenschaft und Sehnsucht, ihre Welt von oben zu betrachten. Auch wenn wir sie nicht lieben können, sind wir fasziniert. Davon, dass sie an Ideale glaubt. Davon, dass sie so wenig Distanz zu sich selbst hat. Selbst davon, dass sie in der Lage ist, alles von ihrer Vergangenheit, was ihr nicht passt, zu verdrängen. Vor allem davon, dass sie ein weiblicher Machtmensch sein kann und will. Was alles auch dadurch befördert wird, dass Langmajer, nicht nur weil sie offensichtlich schwanger ist, so gar nicht ins Klischeeraster der „atemberaubenden Frau“ an seiner Seite passt.

Die Stärken der Inszenierung von Tanja Weidner liegen vor allem im entschlossenen Umgang mit den dramaturgischen Strukturen des Stückes. So bleibt die Dreiecksgeschichte bewusst blass, wird die Figur des Dichters (Florian Bender) behutsam sukzessive ins Zentrum geführt, gestaltet Rosana Cleve das eingebildete, durch Fehlgeburt verlorene Kind stringent als eine Art Nummernrevue, aus der sich am Ende eine Persönlichkeit herausschält. Auch das Bühnenbild des Architekten Jörg Preckel, eine den Raum klar ummantelnde Installation aus in Rechtecke unterteilten Glaswänden, wirkt stimmig.

Die Schwächen liegen, neben der passagenweise hervortretenden Geschwätzigkeit der Vorlage, in der Gestaltung der männlichen Hauptfiguren. Meinrad, der Spitzenpolitiker und Dieter, der Spin Doctor, der Spitzenberater können Ebba nicht nur nicht das Wasser reichen. Sie fallen – als Figuren im Inezenierungsgeflecht – zu deutlich ab. Man interessiert sich kaum für sie, allenfalls für die Frage, wie ein, wenn auch eleganter, derartiger Jammerlappen wie dieser Meinrad ein Land regieren kann. Er muss ein völlig anderer gewesen sein, bevor er sein „Momentum“ verloren hat. Jürgen Lorenzen spielt klar und stringent und bleibt, vielleicht sogar deshalb, sehr blass. Was auch für Markus Hennes gilt. Bei ihm ist Dieter kein Dämon der Macht, kein Puppenspieler, kein zügelloser Hedonist auf der ständigen Suche nach Selbstbefriedigung und -bestätigung, sondern nur eine kleine rechte Hand, ein Polit-Profi als Hamster im Rad. Dass Hennes dabei immer wieder behutsam einen niederrheinischen Akzent herauslässt, der an den furchtbarsten aller Propagandisten erinnert, hilft kaum, schlägt nur eine kleine parodistische Volte.

Dennoch: „Momentum“ ist wohl ein Stück der Stunde und Tanja Weidner und ihr Ensemble werden ihm durchaus gerecht, obwohl der Versuch der Andeutung eines Happy Ends zwar sympathisch, aber nur bedingt glaubhaft wirkt. Auch die Sicht hierauf hat sich durch Corona vielleicht geändert. Sehnsucht und Realität klaffen mutmaßlich weiter auseinander.

Die Intensität des Applauses und das After-Show-Geschehen belegen übrigens deutlich, wie eng hier die Verbindung zwischen Theater und Publikum ist, dass bei der vierten Premiere derselben Aufführung spürbar das Gefühl hatte, etwas geschenkt zu bekommen.