Ensembleszene aus "Nemmokna"

Hin und weg

Susanne Linke: Nemmokna

Theater:Theater Trier, Premiere:30.01.2016

Das mit dem Ankommen ist ja im Tanz mehr Wunsch als Wirklichkeit. Ist ihm doch Heimat- oder Rastlosigkeit eingeschrieben. Vielleicht deshalb dreht Susanne Linke den Titel ihres neuen Stückes gleich mal um: „Nemmokna“. Er zeigt eine Gegenbewegung, einen verfremdeten Klang. Nun also ist sie selber, die berühmte Choreographin und Tänzerin, deren Tanzweg einst bei Mary Wigman begann und von der Essener Folkwanghochschule aus in die Welt führte, in Trier – angekommen. Seit der Spielzeit 2015/16 leitet sie die Tanzsparte am dortigen Stadttheater, wofür sie der neue Intendant Karl M. Sibelius angeworben hatte. Das sorgt für überregionale Aufmerksamkeit, was dem eher am Rande der Republik gelegenen Haus und ihr auch gegönnt sei sowie den zehn Tänzern, denen sie in „Nemmokna“ zwei Gäste und einen Eleven beigesellen konnte, so dass sie eine richtige Menge auf der Bühne bilden.

Das gut achtzigminütige Stück bekam am Premierenabend von der Mehrheit des Publikums heftigen Applaus samt standing ovations. Doch es ist kein Meilenstein eines künstlerischen Schaffens. Man sieht ihm zwar an, dass jemand mit unbezweifelbarem choreographischem Sachverstand den großen, offen gelassenen Bühnenraum mit den Tänzern belebt und Abläufe und Übergänge strukturiert, ohne dass es klappert und quietscht, und geschickt mit Wiederholungen und Überraschungen spielt und sich dabei nicht auf theatralische Mittel einer irgendwie gearteten Story stützen muss, sondern eben ganz auf den Tanz setzen kann. Eine schöne Art des Ankommens – als Weglassen, auf dem Weg lassen. Nur dass die Art des Tanzes nicht immer überzeugt. Auch scheint die Bühnentechnik mit ihrem Ansteigen und Absenken von Teilen des Bodens zu Stufen, tiefen Kaimauern und Bahnen dann doch Extraeffekte setzen zu müssen, um das Stück interessant zu machen. Interpretierbar vielleicht als Unwägbarkeiten des Lebens, als Auf und Ab, das die Tänzer aber einfach so hinnehmen. Nur Paul Hess, im roten T-Shirt, scheint den Boden wirklich zu bemerken, auf dem er steht und sitzt. Abgesondert von den anderen hockt er sich ein paarmal vorn an die Bühnenkante, hängt seinen Kopf in den leeren Orchestergraben und streicht mit der Hand über den Rand wie über einen Rücken. Solches sind die großen Momente im Kleinen, von denen das „Ankommen“ mehr hätte gebrauchen können.

Wo sich doch der Anfang eine vielsprechende Ruhe gönnt. Ganz weit hinten im riesigen, düsteren, etwas vernebelten Raum ist nur ein Kopf zu sehen, der auf zwei gebeugten Armen ruht. Langsam und schwerfällig erhebt sich das müde Wesen im langen Rock auf die Füße. Als sei es uralt oder von weit her. Héloïse Fournier tanzt sich allmählich ihren Weg nach vorn, wirft die Arme auf, ruckt sie wie gegen Widerstand, beugt den Oberkörper tief, holt aus, streckt sich hoch und breit, wird immer mehr Herrin dieser Welt, die dort entsteht. Bis aus dem Abgrund vorn Geröll emporgehoben wird. Es sind abgelegte, hingelegte Menschen, die sich langsam rühren, strecken, weich vom Haufen wegrollen, aufstehen, als Zweibeiner immer mehr werden, mit altmodischen Rüschen an Jacken und Hemden, und wie vom Gewicht der Zeiten gebeugt, schleppende, schwankende Schritte gehen. Seitlich, überkreuz und kaum voran. Da gibt’s kein Ankommen, ahnt man, höchstens Pausen von der Flucht.

Dieses leidensvolle, erdenschwere Gehen kontrastiert Susanne Linke mit den hurtigen Tänzen ihrer Ensemblemitglieder. Manchmal wirbeln, wehen, rollen sie einzeln, durchschneiden und quirlen die Luft, mal tun sich zwei zusammen, oder es bilden sich Unisono-Grüppchen oder auch mal ein wendiger Schwarm. Sie rennen im Kreis, stürzen sich in seine Mitte, sie formen stumme Reihen. Choreographische Mittel wie aus dem Baukasten. Man merkt, dass die Choreographin ihren Tänzern Entfaltung erlaubt, und so schwingen sie ihre Beine hoch, mäandern und rotieren mit den Armen, rollen zu viel, heben Kollegen akrobatisch, biegen und beugen ihre flexiblen Oberkörper. Im Ganzen fehlt da Verdichtung oder auch Mut zu etwas ganz anderem. Die kurzen Palaver auf Chinesisch, Spanisch, Russisch sind überflüssig, und auch die kleinen Sprachspiele, die Mareike Franz als kecke Hampelfrau von sich gibt, „Urlaub im Weinlaub“, wirken eher wie Füllsel. „Wat zuvill is, is zuvill“, sagt sie selber.

Die bemerkenswerte Lichtregie von Kai Kolodziej gibt der gut aufgelegten Truppe, die auch noch zusammenwachsen muss, Spielraum in ihrer Unbehaustheit, eher nächtlich als fröhlich warm, er lässt Tänzer zu gesichtslosen Schatten werden, saugt sie in Dunkelheit und schiebt sie wieder heraus. Das Musikarrangement von Wolfgang Bley-Borkowski, von Wagner-Streichern über Pink Floyd und John Coltranes Jazz bis zu präpariertem Klavier, begleitet eher, als dass es sich einmischt, was der Sache gut tut. „Nemmokna“ kommt noch nicht am Gipfel der Tanzkunst an, es endet denn auch im altmodischen Bild einer Cocktailparty. Da ist also noch Luft nach vorn.