Die Besetzung der Opernaufführung mit Vokal-Solisten ist spitzenmäßig. Als Habsburg-Prinzessin Mathilde fesselt die Sopranistin Judith Howarth nicht nur mit feiner Lyrik (Arie „Sombre forêt“ / Dunkler Wald) und dialogischer Einfühlung im zweiten Akt, sondern auch mit dynamisch abgestuftem Koloratur-Zierrat im dritten. Ihren Duett-Partner, den in sie verliebten, zwischen den Herrschaftsansprüchen der Habsburg-Partei und seiner patriotischen Pflicht als Schweizer hin und her gerissenen Arnold Melchthal, singt Michael Spyres mit glanzvoll hohem Belcanto-Tenor, der auch exorbitant halsbrecherische Anforderungen seines umfangreichen Parts mit Bravour meistert. Tell, die namensgebende Hauptfigur, ist gleichfalls erstklassig besetzt: Bassbariton Andrew Foster-Williams brilliert mit verinnerlicht dramatischer Kraft und verdichtet die Apfelschuss-Handlung zu einer erregenden Szene. Neben dem britisch-amerikanischen Sänger-Dreigestirn überzeugt mit zart tremolierendem Koloratur-Sopran die ebenfalls angloamerikanisch geprägte Tara Stafford (in der Hosenrolle) als Tell-Sohn Jemmy. Bassist Nahuel Di Pierro (Walter Fürst und Vater Melchthal), Mezzosopranistin Alessandra Volpe (Tells Gattin Hedwige) und Tenor Artavazd Sargsyan (Fischer Ruodi) haben gewichtigen Anteil am grandiosen Sängerfest, während Raffaele Facciolà (als tyrannischer Landvogt Gessler), Giulio Pelligra (Rodolphe) und Marco Filippo Romano (Leuthold) aus musikalischer Sicht als Nebenfiguren einzustufen sind.
Schönlebers Regie-Konzept neigt zu konventionellem Rampensteh-Theater und zeigt Schwächen, die teilweise den bescheidenen akustischen und technischen Bedingungen der Wildbader Theaterspielstätte geschuldet sind. Schon zur Ouvertüre wird Robert Schrags ohne Vorhang auskommende, zum Publikum hin breit ausgeweitete, Grau in Grau gehaltene Bühne von stummen Akteuren bevölkert, wobei deren (die Opernhandlung vorwegnehmendes) Spiel aufgesetzt wirkt. Da gibt es eine 68er-Demo mit „Liberté“-Transparenten und prügelnden Ordnungshütern – ein banalisierender Aktualisierungsversuch der (im Libretto von Étienne de Jouys und Hippölyte Bris‘) an Friedrich Schillers Schauspiel „Wilhelm Tell“ angelehnten, 1829 in Paris uraufgeführten habsburgfeindlichen Freiheits-Oper. Mehrfach wird die Spielfläche von den farbenfroh ausstaffierten Chor-Massen und den bundeswehrgrau uniformierten Gessler-Knechten (Kostüme Claudia Möbius) einfach zugestellt, während sich die blühende Melodik der Volkschöre (Camerata Bach Chor aus Posen) mit geradezu slawischer Wucht entfaltet. Divertissements zu Ballett-Musiken werden von bemühten Hupfdohlen ausgeführt – mit Ausnahme eines mädchenhaft wilden, den Gessler’schen Demütigungen vor dessen aufgehängtem Hut mutig trotzenden Solotanzes (Francesca Peniguel). Und beim Rütli-Schwur sitzen die knorrigen Bergbauern aus Unterwalden, Uri und Schwyz wie Schulerbuben brav auf weißen Plastik-Stühlen und nehmen gestempelte Beitrittserklärungen sowie rote Sparbücher in Empfang. Sollte diese Ironie den Schwarzwälder Schwaben oder den Schweizern gelten? Die chorische Schlussapotheose mit der Hymne an die Freiheit spült freilich alle Kritikaster-Bedenken hinweg.
Rossinis einzige französische „Grand Opéra“, komponiert von einem Italiener für Paris, handelnd vom Freiheitskampf Schweizer Kantone gegen Österreich nach der Vorlage eines deutschen Klassikers, also europäisch par excellence, bleibt eine Herausforderung. Die wird in Wildbad mit großem Aufwand sehens- und vor allem hörenswert eingelöst.