Foto: Annika Neugart als Octavio Piccolominis Sohn Max. © Armin Smailovic
Text:Anne Fritsch, am 5. Oktober 2025
Jan-Christoph Gockel richtet Friedrich Schillers Kriegsdrama „Wallenstein“ an den Münchner Kammerspielen als siebenstündiges „Schlachtfest“ an und verwebt es mit der Geschichte der russischen Gruppe Wagner. Das Ergebnis ist ein vielschichtiges Theaterspektakel, das den Klassiker erfolgreich in die Gegenwart überführt.
„Der Krieg ernährt den Krieg“, heißt es einmal in Friedrich Schillers „Wallenstein“. Vor allem aber ernährt der Krieg seinen Feldherrn, der seine Söldnerarmeen durch die Lande schickt und sie die besetzten Gebiete plündern lässt. Was also wäre ein Feldherr ohne Krieg? Am Ende nichts als ein ganz gewöhnlicher Mensch. Über 300 Seiten lang ist Schillers Trilogie. 300 Seiten über Macht und ihren Missbrauch, über Vertrauen und Intrigen, über Krieg und die scheinbare Unmöglichkeit von Frieden. Zum Saisonauftakt an den Münchner Kammerspielen hat sich der Regisseur Jan-Christoph Gockel nun dieses monumentale Werk vorgenommen und in ein siebenstündiges Theaterfest mit allen Mitteln und für alle Sinne verwandelt.
Auf das Thema kam Gockel durch die Beschäftigung mit dem russischen Kriegsunternehmer Jewgeni Prigoschin, der 2022 mit seiner paramilitärischen Gruppe Wagner zum offiziellen Instrument Moskaus in der Ukraine wurde. Doch mit Prigoschins Macht wuchsen die Konflikte mit Putin, der vermeintliche Handlanger und Befehlsempfänger geriet außer Kontrolle. Im August 2023 kam Prigoschin bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Wie Wallenstein hatte er gegen seinen „Kaiser“ aufbegehrt – und wie dieser hat er seinen Ungehorsam nicht überlebt.
Wallenstein und Putins Koch
Auf die Bühne der Kammerspiele tritt zu Beginn also Serge, „ein Typ aus Russland im Mantel und mit einem Zauberstab“. Serge heißt eigentlich Sergei Okunev. Er hat intensiv zum Söldnerwesen und zur „Militärfirma Wagner“ recherchiert und wird im Laufe des Tages und Abends immer wieder die Parallelen zwischen beiden Erzählsträngen herausarbeiten – und das enorm unterhaltsam und charmant. Gewappnet mit einem Zaubermantel, einem Zauberstab und ganz viel Humor stellt er sich den Mächtigen mutig entgegen.
Wallenstein und Wagner also? Das könnte nun ziemlich sperrig und verkopft werden, diese beiden Welten zusammenzuführen. Doch Gockel gelingt das Kunststück, das Vergangene und das Aktuelle, Dichtung und Wahrheit auf vielen Ebenen ganz smooth miteinander zu verknüpfen und in Einklang zu bringen. Als sich nach Okunevs Einführung der Eiserne Vorhang hebt, wird auf der Bühne, oder eben in „Wallensteins Lager“, in einer Großküche geschnippelt, gehackt und gebrutzelt. Und schon sind da beide Welten in einer: Startete doch auch Prigoschin seine Karriere in der Gastronomie, arbeitete sich vom Hot-Dog-Verkäufer hoch zu „Putins Koch“.

Konfrontation von Max (Annika Neugart) und Octavio Piccolomini (Annette Paulmann). Foto: Armin Smailovic
Überbordende Männlichkeit
Später wird die Küche in den Hintergrund der Bühne rücken, die Julia Kurzweg gestaltet hat. Dann wird vorne Prigoschins erstes Luxusrestaurant in Moskau zum Leben erweckt, mit dem schönen Titel „Russischer Kitsch“. Unter einem opulenten Lüster aus bunten Stoffblumen und LEDs wird an einem langen Putin-Tisch ein Festmahl für ausgewählte Zuschauer:innen angerichtet, die das von der Schauspielerin Annette Paulmann kreierte „Piccolomini-Menü“ während der längsten der drei Pausen verspeisen dürfen. (Auf die anderen wartet wahlweise ein Menü in der Theatergastronomie oder – passend – ein Hot-Dog-Stand im Hof.)
Die meisten der Schillerschen Kriegsmänner, Generäle und Obersten, lässt Gockel von Frauen spielen. Und die lassen in ihrer neu erworbenen Männlichkeit mal so richtig die Sau raus, treiben den Wahn von Macht und Stärke auf die Spitze und liefern mehr als eine komödiantisch-gruselige Szene ab, sind definitiv die krasseren Männer. Da wären Katharina Bach als exzentrischer und schwer unter Kontrolle zu haltender Illo, Johanna Eiworth als unheimlich-skrupelloser Isolan und Annette Paulmann als ruhiger Strippenzieher Octavio Piccolomini, der sich kochend im Hintergrund hält, in den entscheidenden Momenten aber entschieden und mühelos die Kontrolle übernimmt. Nur seinen Sohn Max, den Annika Neugart wunderbar jugendlich-aufbrausend spielt, bekommt er nicht in den Griff.

Illo (Katharina Bach) und Wallenstein (Samuel Koch). Foto: Armin Smailovic
Ein Theaterfest für alle Sinne
Sie alle werden gelenkt von Wallenstein, den Samuel Koch als leisen, aber gefährlichen Souverän im Hintergrund spielt. „Es ist der Geist, der sich den Körper baut“, sagt dieser Wallenstein einmal. Und wenn der querschnittgelähmte Koch sich von seinen Untergebenen zu opulenter Musik durch den Raum tragen lässt oder sie anweist, ihn wie eine Marionette an einem Gestell mit Schnüren zu bewegen, dann wird eindrücklich klar, dass es tatsächlich er ist, der hier die Strippen zieht. Zumindest eine ganze Weile lang. Denn dann beginnt sich eine Intrige zu entspinnen, die hier wiederum geschickt mit der Realität spielt. Denn jener Buttler, der maßgeblich an seiner Ermordung beteiligt sein wird, wird von Samuel Kochs persönlichem Assistenten Daniel Hascher gespielt. Von einem der Menschen also, dem der private Koch tagtäglich sein Leben anvertraut.
Was Gockel und dem ganzen Team hier gelingt, ist nicht weniger als ein Theaterfest für alle Sinne. Gockel nutzt alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel, Medien und Orte, von Puppenspiel über Musik bis hin zum Live-Video. Gekonnt hält er die Balance zwischen Schwere und Leichtigkeit. Dieses Theater nimmt sich all den Raum und die Zeit, die es braucht, und tut gut daran. Immer wieder staunt man ob dem, was da auf der Bühne, im Foyer und draußen auf der Maximilianstraße geschieht. Sieben Stunden lang geht das wilde Treiben, und keine Sekunde wird es langweilig. Am Ende wird Katharina Bach sich aus ihrem Männerkörper schälen, mühsam Silikon-Muskeln ausziehen und am Ende nackt als Frau und Mensch vor dem Publikum stehen. Und sie wird eine Frage stellen, die über allem steht: „Wie viele Tage braucht es, um aus einem Kriegsmenschen wieder einen Friedensmenschen zu machen?“