Foto: Jay Gatsby trifft auf Daisy Buchanan. © Pawel Sosnowski
Text:Karolin Berg, am 11. Mai 2025
Das Gerhart-Hauptmann Theater Görlitz-Zittau lässt das Publikum mit „GATSBY!“ in ein immersives Theatererlebnis auf einem ehemaligen Fabrikgelände eintauchen. Dabei können Zuschauer:innen sich komplett frei durch die Spielfläche bewegen und die Geschichte hautnah miterleben. Oder sie können Gefahr laufen, ganze Handlungsstränge zu verpassen.
Intendant und Regisseur Daniel Morgenroth nimmt sich den berühmten Roman F. Scott Fitzgeralds „Der große Gatsby“ als Vorlage, in dessen Zentrum die Liebesgeschichte zwischen dem durch krude Geschäfte zu Reichtum gekommenen Jay Gatsby und der verheirateten Daisy Buchanan steht. Erschienen 1925 zeigt der Roman die Welt der Mächtigen, des Glamours und Überflusses und ist zugleich eine Vorahnung, dass der American Dream auf tönernen Füßen steht. Die Fallhöhe derer, die es nach oben geschafft haben, ist unermesslich – ein schillerndes und sündiges Babylon.
Großprojekt
Morgenroth katapultiert sein Publikum diese 100 Jahre zurück, nach Long Island, in die USA der Goldenen Zwanziger. Gespielt wird auf dem KEMA-Gelände in der Görlitzer Südstadt, einer ehemaligen Fabrik für Dampfmaschinen, gegründet Ende des 19. Jahrhunderts, zu Zeiten der DDR dann in einen Volkseigenen Betrieb (VEB) umgewandelt. Man muss sich zunächst die Dimensionen dieses Projekts verdeutlichen: Da hat ein kleines Theater die Idee, auf einem stillgelegten Fabrikareal die Welt der 1920er-Jahre auf 4.000 Quadratmeter Spielfläche wiederaufleben zu lassen und zwar nicht als Attrappe – nein, begehbar und haptisch erlebbar, eben immersiv.

„GATSBY!“ Foto: Pawel Sosnowski
Für den sieben-monatigen (!) Umbau dieses leerstehenden Fabrikgebäudes wurden unter anderem 400 m² Boden, 19,5 m Wasserleitungen, 1,7 km Ton- und 3,5 km Stromkabel verlegt. An die Wände kamen 400 l Farbe und 690 m² Tapete. Verbaut wurden 3.900 m Latten und 3.300 m Kantholz. Entstanden ist eine Gebäudebühne, konzipiert von Daniel Morgenroth und Damian Hitz, deren neunköpfiges Erbauerteam vom Publikum – so viel sei vorweggenommen – verdient frenetisch gefeiert wurde. Wann bekamen Techniker schon mal mehr Applaus als das Ensemble?
Open-World-Game Theater
Aber von vorn: Zur Premiere stehen wir, ausgestattet mit weißen Ballmasken für die große Party bei Jay Gatsby, im Innenhof vor diesem überdimensionalen Puppenhaus. Ein farbiger Jeton bestimmt, durch welchen Eingang man das Fabrikgebäude betreten soll. Das ist konzeptionell gut erdacht, um die Publikumsströme von Anfang an zu verteilen – theoretisch. Das Konzept hat etwas von der Videospiel-Logik eines Open-World-Games. Es ist explizit erwünscht, dass sich das Publikum frei durch die zwei Stockwerke bewegt, zufällig auf Figuren des Gatsby-Kosmos trifft, ihnen zuhört, sie beobachtet und individuelle Entdeckungen macht.
In der Praxis verhalten sich Menschengruppen, die sich völlig frei bewegen dürfen – zumal sie sich erst orientieren müssen – dann doch nicht so, wie auf dem Reißbrett geplant. Gefühlt Alle stehen plötzlich in einem verwinkelten, schmalen Flur, schieben sich aneinander vorbei. Wo es rechts oder links hingeht, weiß und sieht man nicht. Die einen wollen die Stufen runter, die anderen die Stufen hoch. Direkt daneben kreuzen sich zwei andere Menschenketten: Knäuelbildung in ziemlich engen Gängen. Man sollte nicht über eine spontan einsetzende Massenpanik nachdenken.
Hat man es durch das Nadelöhr geschafft, ist das, was man dort zu sehen bekommt, atemberaubende Baukunst mit Liebe zum Detail: Ein Holzsteg führt im schummrigen Licht über horizontloses Wasser. Im Nebenraum befindet sich ein echter Pool, noch einen Raum weiter die düstere ölgetränkte Autowerkstatt von George B. Wilson (Benjamin Petschke) und seiner Frau Myrtle (Xenia Ytterstedt). Im Stockwerk obendrüber spielt in der zentralen großen Club-Bar ein sechsköpfiges Jazz- und Swing-Orchester. Im Wohnzimmer von Daisy (Martha Pohla) und Tom Buchanan (Paul Maximilian Pira) kann man umherlaufen, auf deren Couch Platz nehmen, Wintergarten, Hotelrezeption oder den Salon von Jay Gatsby (Philip Heimke) inspizieren.
Immersive Irrläufe
Ich irre staunend, aber etwas verloren durch diese Welt. An welche Figur kann ich mich heften? Mache ich in der Masse eine aus, ist sie im nächsten Augenblick wieder außer Sicht. Die Figuren haben ihr eigenes Leben, das stattfindet, während ich nicht hingucke. Das ist der Unterschied zum Open-World-Game: Da passiert alles für mich. Hier passiert alles en passant. Ich komme irgendwann in einen Raum mit Sofagarnitur und Beistelltischchen. Eine Frau sitzt auf einem Sessel und bindet sich nervös die Schuhe zu, streift ihr Kostüm zurecht. Dann geht sie durch eine andere Tür hinaus – weg ist sie. „Hm, schon vorbei“, höre ich einen Zuschauer zu seiner Begleitung flüstern. Ja, das Gefühl beschleicht mich mehrmals an diesem Abend: Ich komme zu spät, die Party respektive Szene hat ohne mich angefangen. Es ist als würde man den Roman auf irgendeiner Buchseite aufschlagen, ein paar Absätze lesen, weiterblättern, ein paar Absätze lesen, weiterblättern.

„GATSBY!“ Foto: Pawel Sosnowski
Dieses Schlaglichtartige mag inszenatorisch so gewollt sein, frustriert aber auf Dauer. Irgendwann nach zwei Drittel des Abends kann ich offenbar zu einem Haupterzählstrang aufschließen. Ein roter Faden – endlich. Am anderen Ende des Raumes stehend, nehme ich mir vor, jetzt Gatsby zu folgen. Ein paar Sätze zwischen ihm und Daisy schnappe ich auf und schon ist er aus der Tür, eine Menschenschlange hinter ihm her. Drei, vier Ecken später habe ich ihn aus den Augen verloren. Gut, dann also Tom nach. Doch auch der entwischt mir. Es stehen einfach zu viele Menschen im Weg. Dramaturgisch stößt die Umsetzung hier an ihre Grenzen. Die Figuren bewegen sich in Normalgeschwindigkeit durch die Räume, ich hingegen bin im Gänsemarsch unterwegs.
Übergroße Gruppenarbeit
Man unterschätzt die Trägheit der Masse. Eine Aufführung der zwei Geschwindigkeiten. Das Publikum als maskierte Gruppe hat einerseits den Effekt, dass wir im Gegensatz zu den Figuren ausdruckslos, anonym bleiben und die Schauspieler:innen wie durch eine unsichtbare Wand durch uns hindurchspielen, und sich auch genauso bewegen können. Andererseits eröffnet das den Zuschauenden die einmalige voyeuristisch ungenierte Möglichkeit, den Figuren verdammt dicht auf die Pelle zu rücken, ohne, dass die Notiz von einem nehmen. Ich wünschte nur, ich wäre die einzige lauschende Fliege an der Wand, aber da sind noch ein paar hundert andere.
Dieser „GATSBY!“, Chapeau ans gesamte Ensemble, ist eine große Kollektivleistung aller Gewerke, der Tanzcompagnie, Sänger:innen und Schauspieler:innen, die nie im Off sind und so immer ihre Grundspannung halten müssen. Der Star des Abends bleibt der Spielort – eine ohne Frage erlebenswerte Produktion. Es kann Ihnen aber passieren, dass Sie am Ende einen Schuss hören und weder sehen können, wer abgedrückt hat, noch warum. Deshalb ein kleiner Tipp: Begeben Sie sich nicht unvorbereitet in den Gatsby-Kosmos. Lesen Sie das Programmheft, um fehlende Puzzleteile zu ergänzen und dann lassen Sie sich treiben durch das, was Ihnen dort begegnet und zustößt und nehmen sie es mit allen Sinnen wahr. Es macht Spaß, vielleicht noch mehr beim zweiten oder dritten Mal.