Foto: Das Ensemble des Theaters Rudolstadt in "Herscht 07769" © Anke Neugebauer
Text:Gunnar Decker, am 27. November 2022
Wölfe schaun dich an! Am Ende sind sie überall, besetzen das verwüstete Land. Ihr Geheul übertönt schließlich die bis dahin allgegenwärtige Musik von Johann Sebastian Bach. Bach, das ist Struktur und Ordnung – mit ihm hat Florian Herscht versucht, dem Albtraum um sich herum zu trotzen. Er, das Heimkind mit sanfter Seele und der Kraft eines Herkules, ist der Simplicissimus des kleinen thüringischen Kana, in dem viele Kahla nebenan vermuten.
Man denkt bei dem Namen unwillkürlich auch an den biblischen Ort, in dem Jesus anlässlich einer Hochzeit Wasser in Wein verwandelte. Um Magie geht es auch am Theater Rudolstadt mit „Herrscht 07769“ in der Regie von Alejandro Quintana, der den Roman des Ungarn László Krasznahorkai in der Übersetzung von Heike Flemming in fünfzig schlaglichtartigen Szenen auf die Bühne bringt. Dreieinhalb Stunden lang läuft alles auf jene schwarze Magie zu, die Vernichtung bringt.
Das Unheimliche in Thüringen
Krasznahorkai produziert ein Amalgam aus Apokalypse-Trash und Alltag im Osten, speziell in Thüringen zwischen Jena und Eisenach, wo der Terror des NSU immer noch in die Luft liegt. Etwas unbestimmt Ungutes schwelt hier weiter und erst ganz am Ende schlagen die Flamme in die Höhe. Der Abend hat etwas Gespenstisches – in mehrfacher Hinsicht.
Die Wiederbegegnung etwa mit dem gebürtigen Chilenen Alejandro Quintana, der 1973 nach dem Pinochet-Putsch in die DDR emigrierte und am Volkstheater Rostock unter dem despotischen Intendanten Hanns Anselm Perten ein prägender junger Schauspieler und Regisseur wurde (Diesen Weg habe ich als jugendlicher Zuschauer mitverfolgt). In Rudolstadt hat der inzwischen über Siebzigjährige bereits Bulgakows „Der Meister und Margarita“ und „Die Bibel“ inszeniert. Nun schließt er mit Krasznahorkais „Herscht 07769“ inhaltlich und stilistisch an beide Vorgängerarbeiten an. Das Gespenstische: Es sieht immer noch so aus wie vor fast fünfzig Jahren in Rostock, ästhetisch hat sich Quintana keinen Millimeter bewegt.
Soviel Beharrungskraft nötigt Respekt ab und ist doch … gespenstisch. Welch widerspenstige Mischung aus Folklorekitsch, Agitprop-Boulevard und ungebrochenem Pathos wallt da über die Bühne! Ja, die Kunst soll mit Friedrich Wolf unbedingt Waffe sein, aber dieses naturalistische Schwert ist längst stumpf. Das hier hätte eine Versuchsanordnung über die Abgründe der Provinz werden können, mitsamt all den lächelnden Masken der potentiellen Mörder, wie es Lars von Trier in „Dogville“ unternahm. Aber die Chance einer kühlen Diagnose wurde vertan, geopfert einer altbacken-distanzlosen Ästhetik.
Angela Merkel antwortet nicht
Einer, der das wissen muss, weil er in den 1980er-Jahren als Junggenie am Deutschen Theater Berlin gehandelt wurde und bei avantgardistischen Regisseuren wie Heiner Müller und Alexander Lang spielte, ist Frank Lienert, der sich nach der Wende in der Provinz wiederfand und nun als Rentner auf der Bühne in Rudolstadt steht. In „Herscht 07769“ ist er der Physiker Adrian Köhler, der unwillentlich mit seinen Reden von der Rolle der Antiteilchen bei der kosmologischen Zerstörung der Erde, Konfusion bei Florian Herscht auslöst. Muss er darüber nicht Angela Merkel, die Physikerin und Bundeskanzlerin unterrichten, damit sie etwas unternimmt, vielleicht im Weltsicherheitsrat? Und so schreibt er ihr Brief um Brief – ohne je eine Antwort zu bekommen. Stattdessen bekommt er unangekündigten Besuch von zwei graubemäntelten Herren, denen man schon von weitem ihre Geheimdienstprofession ansieht.
An Erfahrung mit Machtmechanismen und dem lügenhaften Schein der Dinge mangelt es Quintana nicht. Sollte das dem Spiel des neunzehnköpfigen Ensembles plus zweier Gäste in dem auf ebenso triste wie expressive Weise endzeitlichen Bühnenbild von Andrea Eisensee nicht eine ganz eigene Energie geben? Nein, das Ensemble wirkt lange Zeit wie atomisiert. Am Rande sitzt der als „ramponierter Engel“ (so das Programmheft) kostümierter Musiker Uwe Steger, der die Bibel-Assoziation wachhält. Wer erlöst uns aus dem Elend unserer Existenz, das nicht zuletzt in wachsender metaphysischer Obdachlosigkeit besteht?
Immerhin, Franz Gnauck als Florian Herscht im blauen Monteuranzug der Reinigungsfirma vom „Boss“ (Benjamin Petschke) auftretend, überzeugt in seiner schlichten Gradlinigkeit. Obwohl großgewachsen und stark, ist er willenlos dem „Boss“ ausgeliefert, einem Biedermann als Brandstifter, der neben seiner Reinigungsfirma auch die Philharmonie von Kana (wegen Bach, dem großen Deutschen) betreibt. Nebenbei befehligt er eine Meute von halbdebilen Neonazis, die seltsamerweise in ihrer karikaturhaften Überzeichnung schon wieder harmlos wirken. Gnauck hält seine Rolle als beflissen-devoter Gefolgsmann fast dreieinhalb Stunden durch, um sich dann in den letzten zehn Minuten explosionsartig in einen Rachegott zu verwandeln. Da erwacht jemand auf blutige Weise aus seinem falschen Traum. Herschts Amoklauf wird so zum Gerechtigkeitsexzess, der nur noch Auflösung vorantreibt.
Da werden auch die bis eben lauter falsche Gesten und Töne produzierenden Kleinstadtbürger von Kana zum machtvollen und direkt agierenden Chor. Aber Erlösung findet nicht statt und auch für die Inszenierung kommt dieser Aufbruch zur strengen Form viel zu spät.