Foto: Ensemblebild © Dorothea Heise
Text:Martina Jacobi, am 31. August 2025
Jenny Erpenbecks „Heimsuchung“ ist bundesweiter Abiturstoff und verarbeitet (im)materielle Existenzverhandlungen. Die Inszenierung am Jungen Theater Göttingen wählt einen chronologisch-erzählenden Weg nah an der Vorlage.
Wie Geister aus der Vergangenheit betritt das Ensemble in weißer Kleidung die Bühne durch ein großes hölzernes Tor. Es erzählt chorisch und versetzt sprechend aus dem Prolog von Jenny Erpenbecks „Heimsuchung“, der bei der Eiszeit und der naturgegebenen Kräften unterworfenen Entstehung von Land einsetzt.
Intendant Nico Dietrich und Tobias Sosinka, Geschäftsführer des Jungen Theater Göttingen, legen ihre Inszenierung von Erpenbecks Buch chronologisch an. Es ist in dieser Spielzeit die erste von mehreren Bühnenadaptionen des bundesweiten Abiturstoffs (uns sind sechs Neuinszenierungen bekannt). „Heimsuchung“ verknüpft auf einem Stück Boden an einem märkischen See über die Zeitspanne von gut 100 Jahren viele Schicksale miteinander. Durch die Zeit der Weimarer Republik, des Zweiten Weltkriegs, der DDR und Wende verändern sich die Besitzansprüche auf Haus und Grundstück, sie sind wie das Land der Natur, höheren gesellschaftlichen und politischen Kräften unterworfen. Was macht uns aus, wenn sich das Eigentum wandelt, welchen Weg wählen wir und was wird dadurch aus uns?
Bundesweiter Abiturstoff
Erpenbeck verarbeitet und verwebt in dem Buch Kindheitserinnerungen und Recherchen zur Geschichte des Hauses ihrer Großeltern am Scharmützelsee und die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wie bei so vielen Romanadaptionen auf deutschsprachigen Bühnen ist auch „Heimsuchung“ bei der Übertragung von Erpenbecks plastischer Sprache in Darstellung auf der Bühne eine Herausforderung. Wie kann sich die Inszenierung von der selbstwirksamen Erzählung lösen?

Thyra Uhde, Fynn Knorr. Foto: DorotheaHeise
In wechselnde Rollen schlüpfend erzählt das engagierte und sich verwandelnde Ensemble – Agnes Giese, Fynn Knorr, Malin Kraft, Götz Lautenbach, Jan Reinartz, Jens Tramsen, Thyra Uhde – die verschiedenen Schicksale, die Kostüme führen stilistisch durch die Zeit der Weimarer Republik, des Zweiten Weltkriegs, die DDR und Wendezeit. Bühnenbild und Requisiten sind einfach und wirksam eingesetzt: Zentral ist das große Tor aus Holz zum ein- und ausschließen, vielleicht auch als Symbol für das Heim, die erhoffte Zuflucht. Es gibt eine Kiste für Hab und Gut, für das im Garten vergrabene Tafelsilber oder das zurückgelassene und später durch andere Hände verscherbelte Meissener Porzellan. Nach Südafrika mitgenommen hat der emigrierte Teil der jüdischen Familie, die das Grundstück in der Vorkriegszeit bewohnte, stattdessen den Christbaumschmuck.
Existenz-Versicherung
Erpenbecks Erzählung mit dem zweideutigen Titel handelt von Zuflucht, Idylle, Verlust und Vertreibung. Davon, wie der Begriff „Heimat“ ein Ort, Besitz und dann eine Erinnerung bedeuten kann. Das beginnt beim Haus, das der regimetreue Architekt 1936 errichtet: „Heimat planen, das ist sein Beruf“. Dem gegenüber stellt Erpenbeck immer wieder den rein materiellen Wert der Baustoffe und Möbel. Was ist ein Zuhause in Stein, Metall und Glas wert? In wie vielen Ladungen Schutt wird es irgendwann zerfallen sein?
Erpenbeck beschreibt in „Heimsuchung“ das (im)materielle Sichern der eigenen Existenz. „Speziell für mein Buch hatte ich das Gefühl, dass viele von den Figuren von der eigenen Suche nach Heimat heimgesucht werden. Ich meine damit, dass sie von dem, was sie hoffen, verfolgt werden“, ordnete Erpenbeck selbst den Roman ein. Was könnte aktueller, relevanter für ein empathisches Miteinander in einer Gesellschaft sein? Das wäre eine spannende Frage für eine weiterreichende Bühnen-Verhandlung, die wagt, die Textvorlage fortzudenken. In Göttingen wählt das Regieteam stattdessen einen Weg, der inhaltlich und in der Ausstattung sehr nah an Erpenbecks Vorlage bleibt, auch wenn der Wechsel von der dritten Person im Buch auf die Ich-Perspektive auf der Bühne die Figuren nahbarer macht. Sie schließt mit dem Abriss des Hauses und sucht den Bogen zurück zum für einen Moment wieder der Natur überlassenen Stück Land, bevor neue Besitzer:innen dort ein Heim aufbauen.