Foto: "Der Sprung vom Elfenbeinturm" © Emma Szabó
Text:Anne Fritsch, am 6. Juni 2021
Wie lange hat man sie nicht gesehen: Zeynep Bozbay, Gro Swantje Kohlhof, Bekim Latifi, Stefan Merki, Annette Paulmann, Wiebke Puls, Vincent Redetzki, Edmund Telgenkämper. Sieben lange Monate gab es keine Vorstellung im Schauspielhaus der Münchner Kammerspiele, keine nicht-digitale Begegnung mit dem Ensemble – und nun gleich eine Premiere mit dieser Besetzung. Es ist wie ein Nach-Hause-Kommen nach einer langen Abwesenheit. Die Vorfreude ist groß. Pınar Karabulut inszeniert „Der Sprung vom Elfenbeinturm“, eine Collage aus Gisela-Elsner-Romanen und -Texten, die die Regisseurin gemeinsam mit Mehdi Moradpour erstellt hat. „Ein Abend gegen deine spießbürgerlichen Phantasien, deine Lebenslügen und deine Kompromisse“ will die Produktion sein. Oder auch: eine Reise durch Deutschland vom Nationalsozialismus über das geteilte Land bis in die 90er Jahre. Man kann sagen: Da haben sich zwei viel vorgenommen.
Los geht es mit einem Prolog, der basierend auf Elsners „Flüche einer Verfluchten“ die Koordinaten des Abends absteckt. Die Zeitspanne: zwischen der Kapitulation und der Öffnung der Mauer, oder dem „ins Auge gegangenen Endsieg“ und dem „einundfünfzigsten Jahrestag der Kristallnacht“. Das Thema: „unreimbar erscheinende Ungereimtheiten“, die Prologsprecherin Gro Swantje Kohlhof im grell-pinken Kostüm gleich aufzählt: der Mainzer Karneval kommt da direkt nach den Massenvernichtungslagern, das Münchner Oktoberfest nach dem Reichstagsbrand, die wirtschaftlichen Verflechtungen der Deutschen Bank nach dem Totalen Krieg. Und und und. Die Liste ist lang, an deren Ende stehen die Alliierten, denen es „keineswegs gelang, die Deutschen, die doch nicht daran denken, wegen irgendwelcher lächerlicher Kapitulationen zu kapitulieren, vom Faschismus zu befreien“.
Da das also geklärt ist, fährt der Eiserne Vorhang hoch: Vor einer raumfüllenden Rutsche stehen Menschen, die aussehen wie Barbiepuppen in Tüllkleidern und „arisch-blauen Glasaugen“. Spooky. Kohlhof zieht sie wie Aufziehpuppen mit einer Schraube am Rücken auf, damit sie loslegen können. Wer sich hinter den Kostümen versteckt, erkennt man erst, wenn sie den Mund aufmachen. Wir sind im ersten Teil des Abends, der auf den Romanen „Fliegeralarm“ und „Heiligblut“ basiert. Die Puppenmenschen sind die Kinder, die in „Fliegeralarm“ in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs makabre KZ-Spiele veranstalten und das menschenverachtende Gedankengut ihrer Umgebung auf die Spitze treiben („Er ist an der Untermenschitis gestorben“). Dazwischen schneidet Karabulut Szenen aus der Jägersatire „Heiligblut“, in der drei Altnazis im Bayerischen Wald jede Hoffnung auf Entnazifizierung ad absurdum führen. Karabulut wirft die Figuren mitten ins Geschehen, hie und da verliert sie sich ein wenig in den verschiedenen Erzählsträngen.
Im zweiten Teil löst sich die Dramaturgie noch weiter von einer stringenten Geschichte und gewinnt deutlich an Fahrt. Hier wechseln sich nun verschiedenste Texte Elsners mit Auszügen aus Interviews ab. In der so entstehenden Collage wird die viel beachtete und viel gehasste exzentrische Autorin, die auch nicht davor zurückschreckte, ihre eigene Beerdigung und „Auferstehung“ zu beschreiben, auf der Bühne lebendig. Diese Autorin, die mit dem Deutschsein rang, mit Kapitalismus, Feminismus und sozialer Ungleichheit. Deren „Seriösität“ in Verbindung mit ihrer Oberweite gebracht wurde und sich in einer Gesellschaft wiederfand, die schreibende Frauen „erstaunlich“ fand. In dem Szenen-Potpourri finden sich einige Schätze: wie Stefan Merki sich immer mehr in seine Schrauben-Zähl-Phobie hinaufschraubt (ja, das muss so genannt werden) oder wie Annette Paulmann sich Jacke und Hose vom Leib reißt, um im Mini-Kleid Elsner-Texte zu rappen; das ist ganz großes Theater, für diese Szenen alleine lohnt sich das Kommen. Tatsächlich gewinnt der Abend, als er sich von den Romanen löst und ins freiere Assoziieren kommt, an Fahrt.
Zum Ende gibt es dann noch eine satte Portion Realismus: Der Roman „Das Berührungsverbot“, der von einer eskalierenden Party erzählt, bei dem sich mehrere unbefriedigte Paare in Sachen sexuelle Befreiung versuchen und doch wieder bei der Gewalt enden, wurde in einen Film übersetzt, der auf den Eisernen projiziert wird. Zeynep Bozbay überführt das Unheil des Landes in einem Epilog dann nochmal in eine Stichwortliste.
Dieser Abend will viel. Nicht alles gelingt. Er ist ein bisschen theatrales Elsner-Biopic, ein bisschen Literaturadaption, ein bisschen Meta-Ebene, ein bisschen Kommentar, ein bisschen Karikatur. Und ganz viel Schauspiellust. Aleksandra Pavlović hat sich bei den Kostümen von Gisela Elsner inspirieren lassen, die sich selbst gerne mit ausladenden Perücken und Designerfummeln in Szene setzte. Bettina Pommer hat die riesige Rutsche auf die Bühne gebaut, die dem Ensemble eine grandiose Spielfläche bietet. Die Figuren rutschen (oder fallen fast) über die Steilwand mitten ins Geschehen, verschwinden kletternd nach oben oder rutschen immer wieder beim Fluchtversuch an ihr herunter. Auch wenn es zwischendurch ein wenig drunter und drüber geht: Dieser Abend hallt nach, erinnert an eine Autorin, mit der man sich mal (wieder) beschäftigen sollte. Pınar Karabulut thematisiert die Errichtung eines Elfenbeinturms namens Nachkriegsdeutschland, der auf einem Fundament von Schönrednerei gebaut ist – und manche schließlich zum Sprung verleitet hat. Gisela Elsner starb 1992, nachdem sie aus dem Fenster einer Psychiatrischen Klinik in München gestürzt war.