Foto: B. Davronov, M. Paster, S. Kuflyuk, V. Karkacheva © W. Hoesl
Text:Roberto Becker, am 6. März 2023
Wenn ein Opernhaus – noch dazu eins vom Range der Bayerischen Staatsoper in München – heute, über ein Jahr nach dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine, Sergej Prokofjews Monumentalwerk „Krieg und Frieden“ aufführen will, dann führt das zwangsläufig zu einer Vorfelddebatte darüber, ob das politisch opportun ist. Im Falle der „Liebe zu den drei Orangen“, des „Feurigen Engels“ oder zuletzt auch hin und wieder der „Verlobung im Kloster“ war das bislang noch nicht der Fall.
Doch wenn selbst die ZEIT Raum für explizite Forderungen nach einer Verbannung alles Russischen von den Bühnen des Landes und möglichst auch noch aller aus Russland stammenden Künstler bietet, führt das im Falle von „Krieg und Frieden“ zwangsläufig dazu, sich in dieser Frage zu erklären.
Als der Münchner Intendant Serge Dorny und sein GMD Vladimir Jurowski diese spezielle Premiere für den 5. März 2023 eingeplant haben, wussten sie natürlich, dass das der Todestag von Stalin und auch der von Prokofjew im Jahre 1953 ist. Was ja an sich schon eine aparte politische Pointe sein könnte. Dass man aber das schon in der Vorlage von Tolstoi eingewobene und mit einer erheblichen Dosis von „Nieder-mit-den-Feinden-Russlands“-Pathos vertonte Kriegspanorama, nach Putins Überfall auf die Ukraine zwangsläufig gänzlich anders sehen und hören würde, war nicht absehbar.
Sittenbild einer Gesellschaft
Diese Zeitenwende glich dem Bruch in der emotionalen Tonlage, mit der sich der zweite Teil des Abends in München vom ersten abhebt. Der erste ist ein Sittenbild aus dem alten Russland, dessen Personal so vertraut wirkt wie das aus Tschechows Stücken oder Tschaikowskis Opern. Der sympathische Fürst Andrej verliebt sich in die schöne Natascha und rechnet damit, dass sie ihm treu ist. Die junge Frau lässt sich aber von einem Hallodri einwickeln und wird von wohlmeinenden Freunden gerade noch davor bewahrt, sich entführen zu lassen. Was da in gut einhundert Minuten ausgemalt wird, ist das Sittenbild einer Gesellschaft, in die dann mit Wucht von Außen der Krieg einbricht. Dessen Abwehr und der menschliche und materielle Preis, bis hin zur selbst von den Russen angezündeten Hauptstadt Moskau, so dass Napoleon nur noch Trümmer vorfindet, ist dann der Gegenstand des zweiten Teils, den Prokofjew nach und nach hinzugefügt hat. Auch, um damit den Forderungen Stalins nach moralischer Mobilmachung gegen die Nazis zu entsprechen. Für die aktuelle Produktion wurde denn auch etliches, wie die Ouvertüre und das komplette besonders martialische 10. Bild gestrichen.
Wenn Vladimir Jurowksi per se für die musikalische Authentizität des russischen Tonfalls der Musik Prokofjews steht, so durfte man dem im Westen seit Jahren wohl erfolgreichsten russischen Regisseur Dmitri Tcherniakov das rechte Gespür für die moralische und historische Authentizität bei der szenischen Umsetzung zutrauen.
Intelligent und wirkungsstark
Man diskutierte das Für und Wider dieses plötzlich politisch heiklen Projektes, entschied sich für das Für und behielt recht damit. Dass sich der Fürst Andrej im Stück heute mitunter wie Selenski anhört, ist das eine. Dass Tcherniakov auf intelligente und dem Genre gemäße Weise die Mechanismen des Krieges und ihre Folgen für das Leben der Menschen vorführt, das andere, viel wirkungsstärkere. Er macht nicht einfach aus den damaligen französischen Eroberern, die heutigen russischen. Sein Grundeinfall, Menschen, die offensichtlich auf der Flucht oder in Gefahr sind, in den Säulensaal des Moskauer Hauses der Gewerkschaften zu verlegen, ist höchst symbolträchtig. Es ist sozusagen die Gute Stube russisch-sowjetischen Selbstverständnisses. Hier fanden Kongresse statt und wurden programmatische Reden gehalten, hier wurde dem eigenen Volk und der Welt das Theater der berüchtigten Schauprozesse vorgespielt. Hier wurden die toten Sowjetführer aufgebahrt und mit der Besetzung der Totenwachen die jeweiligen Nachfolgekämpfe eingeleitet. Dieser Säulensaal ist das Einheitsbühnenbild, das im ersten Teil bei den vorgespielten Bällen noch sozusagen mit sich selbst fremdelt, aber im Verlaufe der Geschichte, sprich des Krieges, immer mehr zu sich selbst findet. Beeindruckend die ausbrechenden Exzesse in den großen Chor-Tableaus (Einstudierung: David Cavelius). Bei der gefüllten Bühne ist es gar nicht so einfach, einzelnen Szenen des Spiels im Spiel markant sichtbar zu machen.
Das größte Pfund, mit dem diese Inszenierung dabei wuchern kann, sind die durchweg grandios singenden und intensiv spielenden Protagonisten! Angefangen bei Andrei Zhilikovsky als souveräner Sympathieträger Fürst Andrej und Olga Kulchynska als jugendlich flatterhafte, am Ende gereifte Natascha. Bis hin zum machtvoll auftrumpfenden Dmitry Ulyanov als arg volkstümelndem Kutusov. Aber auch Arsen Soghomonyan als Graf Besuchow und all die anderen hinterlassen einen starken Eindruck. Am Ende bettet sich Kutusow auf einen Berg mit roten Fahnen. Und erinnert an den toten Stalin.
Wie hier die Musik und die Bedeutungsebenen und Anspielungen ineinander gespiegelt werden, hat das Zeug, den Stoff für einen jeweils eigenen Epilog beim Zuschauer zu liefern. Dass Krieg etwas Menschenfeindliches ist, auch wenn das Pathos noch so lodert – das ist allemal klar. Nicht nur Jurowski, die Musiker des Bayerischen Staatsorchesters und das Riesenensemble wurden gefeiert. Es traf genauso den Regisseur und auch der Intendant darf sich diesmal ausdrücklich mit gemeint fühlen.