Foto: Am Meer: v.l.n.r. Oliver Stokowski (Oltermann), Patrick Bimazubute (Brede), Max Mayer (Ivar Kareno) © Sandra Thean
Text:Andreas Falentin, am 9. Mai 2022
Wie geht man heute mit einem Autor wie Knut Hamsun um? Gefeierter Literaturnobelpreisträger, dem das ganze schreibende Europa zu Füssen lag einerseits, im Alter Sympathisant der Nationalsozialisten mit persönlichem Draht zu Joseph Goebbels andererseits? „Sich mit Hamsuns Kareno-Figur zu beschäftigen, bedeutet, Hamsun gleich auf zweifache Art gegen Hamsun zu lesen“, schreibt Produktionsdramaturg Ewald Palmetshofer im Programmheft. Denn jener Ivar Kareno, nachdem die in den 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts entstandene Dramen-Trilogie benannt ist, will mit einem Buch reich und berühmt werden, das sich gegen Demokratie und Liberalismus und für die Herrschaft von nicht gewählten Despoten einsetzt.
Was will uns so eine Protagonisten-Figur nun gerade heute? Sollen wir sie verabscheuen? Warum soll man sich überhaupt mit diesen über 200 wortklingelnden Dialogseiten befassen? Die zudem nahezu ständig, natürlich dem Geist ihrer Zeit verhaftet, unerträgliche Geschlechter-Klischees reproduzieren: Die Männer sind besessen von Erfolg und Aufstieg, die Frauen wollen vor allem etwas erleben, aus dem Alltag ausbrechen.
Der Weg des Ausgleichs
Ein Hauptthema des Theaterabends setzt recht schnell – hier muss der Rezensent gestehen, dass er wegen einer monströsen Verspätungsorgie der Deutschen Bahn die ersten Minuten verpasst hat – der Journalist und Lobbyist Bondesen, für den Robert Dölle eine schöne, sachliche Klebrigkeit gefunden hat: „Irgendwann müssen wir alle den Weg des Ausgleichs gehen.“ Man muss sich also entscheiden: Haltung oder Karriere. Das wissen eigentlich alle Figuren. Warum wüten sie dann aber so ingrimmig gegen die Haltungen und Meinungen anderer, wenn sie doch wissen, wie diese zustande kommen? Warum tolerieren sie diese nicht und argumentieren einfach?
Der erste Teil, „An des Reiches Pforten“ wird in der Textfassung von Palmetshofer und Regisseur Stephan Kimmig, ganz von diesen Verhaltensmechanismen dominiert. Und das wirkt brennend aktuell. Hier liegt in gewisser Weise das frühe 21. Jahrhundert auf dem Seziertisch. Die Armut der Karenos, eigentlich ein wesentliches Motiv, wird dagegen genauso zurückgedrängt wie mehrere erotische Nebenhandlungen. Katja Haß hat einen nur wenige Meter tiefen, monumentalen weißen Raum entworfen, ein leeres Blatt sozusagen. Anja Rabes steuert grau-schwarze Hipster-Outfits bei. Und Max Mayer sieht als Ivar Kareno dem Autor Hamsun ziemlich ähnlich, inklusive dem Schnauzbart der späten Jahre.
Der Raum öffnet sich zu seiner ganzen Tiefe. Der zweite Teil, „Spiel des Lebens“, zehn Jahre nach dem ersten angesiedelt, findet in farbig beleuchteter Eleganz statt. Und alle tragen weiß. Herr Otermann hat an einer nicht näher benannten Küste ein Wirtschafts-Imperium errichtet und Kareno als Hauslehrer für seine Söhne angestellt. Er baut ihm einen Turm und will sein „metaphysisches“ Werk publizieren, wenn es fertig ist. Auf Otermanns Grund wird Marmor gefunden. Er verkauft die Schürfrechte, hat von nun an keine wesentlichen laufenden Einnahmen mehr und wird krankhaft geizig, was schließlich eine monströse Katastrophe auslöst, bei der alle seine Kinder sterben. Ein Fixpunkt dieses Dramas ist Otermanns Tochter Teresita, um die sämtliche Kerle kreisen, der andere der fast sprachlose Thy (eindrucksvoll: Thomas Lettow), der auch „Gerechtigkeit“ genannt wird. Hier scheinen Ernst Barlachs symbolistisch-expressionistischen Dramen-Konzentrate fast unheimlich vorgeprägt. Von Ivar Kareno hingegen führt „Spiel des Lebens“ weg, obwohl er hier seiner Frau wiederbegegnet, von der er getrennt war, und vermutlich jene Tochter mit ihr zeugt, die dann im dritten Teil auftritt. Gerade im Rahmen des Gesamtkonzepts ergeben sich hier Längen, zu viele neue Fäden und neue, wenn auch sehr gut gespielte Figuren. Als Darstellung der Sackgasse Ökonomisierung und Kapitalhortung ist das Teilstück gleichwohl seiner Zeit weit voraus.
„Abendröte“ schließlich, wieder zehn Jahre weiter, lässt Kareno doch noch politische Karriere machen, gepusht von Bondesen. Der Raum ist jetzt vor allem repräsentative und doch enge Dekoration. Die Hereinkommenden müssen sich durch niedrige Vorhänge wühlen, im Raum stehen hübsch ausgestopft Reh und Hirsch. Elinas Eltern sind gestorben, die Karenos sind reich und Ivar löst sich nach vielem Hin und Her vom „Berg“, einer Organisation, die seine ursprünglichen Ansichten vertritt. Als Kareno in Anzug und Krawatte auftritt, ist alles entschieden.
Im Mittelpunkt: die Schauspieler:innen
Keine Mikrofone, keine Videos: Dieses „Spiel des Lebens“ will Schauspieler-Theater sein und ist es auf höchstem Niveau. Die Texte sitzen und schwingen frei. Die wenigen Struktur gebenden Manierismen – etwa Oliver Stokowskis ständiges „Schon weg“-Gemurmel als Otermann oder Max Mayers lange Schritte in der Schlussszene – erscheinen da fast redundant. Einzig Niklas Mitteregger wirkt als „Berg“-Eleve Tare in Parka und Jeans (warum?) etwas blass. Vielleicht, weil Inszenierung und Textvorlage das Gift, dass Kareno am Ende des ersten Teils in seinem Monolog verspritzt und weiterträgt, über die langen drei Stunden ein wenig aus dem Blick verloren haben. Max Mayer trägt als Kareno den Abend mühelos, Lukas Rüppel ist ein herrlich verklemmter Gegenspieler, Arnulf Schumacher liefert in Schlussteil eine Art Vintage-Kabinettstückchen als Kultusminister.
Dennoch bleibt ein Unbehagen, trotz der vielen immer wieder aus dem Nichts zwanglos entstehenden Gegenwartsbezüge. Und obwohl Palmetshofer und Kimmig die Frauenfiguren revidiert haben, sie klüger, vor allem: weniger beschränkt auf die Welt schauen lassen als der Autor Hamsun. Lisa Stiegler (Elina Kareno), Liliane Amuat (Teresita) und Hanna Scheibe (Natalie) haben so Raum für schöne, entspannte Charakterstudien. Aber braucht es für all das gerade diesen Text, diese wild und subjektiv wuchernde, veraltete Psychologie und Philosophie, historische Innovation hin oder her? Die Dramaturgie hat den Text gezähmt und erlebbar gemacht, es gibt geradezu prophetische Stellen, das Publikum jubelt ausgiebig. Und doch mutet das Verfahren letztlich ein wenig synthetisch an.