Die Herdmanns beim Krippenspiel im Schauspiel Hannover.

Doku-Krippenspiel

David Gieselmann: Hilfe, die Herdmanns kommen

Theater:Staatstheater Hannover, Premiere:01.12.2012 (UA)Vorlage:Barbara Robinson

„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde …“ – „Die Herdmann-Kinder waren die schlimmsten Kinder aller Zeiten. Sie logen, klauten, rauchten Zigarren (sogar die Mädchen!) und erzählten schmutzige Witze …“ Zwei Welten ohne Schnittmenge, das biblische Weihnachtsmärchen des Evangelisten Lukas und das lustige Sozialdrama einer verwahrlosten Familie: Vater im Knast, Mutter meist malochend abwesend, Kinder allein zu Haus. Wie beide Geschichten zusammenzubringen sind, hatte Barbara Robinson mit frechem Charme und pädagogischem Unterton in den 70ern literarisch fantasiert: Die von ihr erfundenen Herdmanns entern die Kirchengemeinde und übernehmen alle Hauptrollen des Krippenspiels. Mit prolligem Vokabular, satirischen Anspielungen auf die mediale Vermarktung der so genannten Unterschicht und Verortungen in Hannover haben Komödienmacher David Gieselmann und Regisseurin Hanna Müller den Stoff zum aktuellen Familienstück hergerichtet.

Der Uraufführung gelingt vor allem, mit einem Missverständnis aufzuräumen. Die in der Romanvorlage noch mit Ironie verzärtelten Herdmanns sind keine pippilangstrümpfigen Anarchisten-Clowns wider die Langeweile saturierter Bürgerlichkeit. Sie verzapfen Unsinn, zerstören auch Ordnungen, Routinen. Aber nicht um gegen Vorurteile zu rebellieren oder die genormte Erwachsenenwelt in Frage zu stellen. Sie trotzen nur der eigenen gesellschaftlichen Ohmacht mit kleinen Machtdemonstrationen. Gar nicht heldenhaft ziehen sie Mitschüler ab und zelebrieren in ihrem Viertel eine recht brutale Gangkultur. Die Mittelstandskinder hegen keine Spur stiller Bewunderung für die Herdmanns, haben nur wohlbegründet Angst vor ihnen. Diese auszulösen und zu empfinden vermitteln die Darsteller mit eindrücklichem Spiel unter karikierender Kostümierung: Thirdhand-Klamotten und -perücken für die Herdmanns, Rautenpullover und Schlaumeierbrille für die Kleinbürgereltern sowie adrett fade Boutiquenzwirn-Imitation für ihre Kinder. Äußerlich macht sich die Inszenierung immer über alles und alle lustig, darunter brodelt der Ernst einer sozial auseinander brechenden Gesellschaft.

Gekonnt parallelisiert Gieselmann diese Eskalation. Gutmenschen tragen an Round-Table-Abenden die üblichen Reflexe vor, rufen nach „Bürgerwehr, Polizei“ und schimpfen: „Wir müssen diesen Herdmanns den Garaus machen, man muss sie verweisen, rauswerfen, feuern, kaputtmachen, klein hacken, man muss sie töten!“ Während die so Attackierten daheim mit dem Chemiebaukasten (ein Geschenk des Streetworkers!) bombig experimentieren. Weil die nett-freche Komödie immer wieder derart zugespitzt wird, funktioniert auch die Wendung in den Integrationskitsch nach der Pause mit der Simulation eines Weihnachtsgottesdienstes. Georgel, weihevoll verhallte Worte der Liturgie, volle drei Strophen „Es ist ein Ros’ entsprungen“ werden mit den Zuschauern gesungen. Und dann das Krippenspiel der Herdmanns – in Anlehnung an Shakespeares „Sommernachtstraum“-Finale. Dieser theatrale Balanceakt, wenn die Handwerker im Tempel der Mächtigen ihre Version der Geschichte von Pyramus und Thisbe darbieten: lustig, weil schlecht gespielt, aber auch aller Achtung wert. Für die Liebe zum Theaterspiel und die Leidenschaft, sich ausdrücken zu wollen. Die Herdmanns erzählen mit dem Drama der Heiligen Familie von dem ihrer unheiligen Familie. Tochter Eugenia identifiziert sich vollends mit der Maria-Rolle, kämpft um die Rechte des Neugeborenen, vor allem um das Recht, Kind sein zu dürfen. Das wurde ihr als Ersatzmutter/Herdfrau bisher verwehrt. So bekommt die Krippenspielleiterin für ihren Dokutheateransatz Recht: „Meine Besetzung ist mein Regiekonzept, weil diese Kinder einen Sinn für Gerechtigkeit haben.“ Es muss also nicht immer die Menschwerdung Gottes sein, auch die der Comedy-Klischees vom asozialen Dasein geben eine prima Weihnachtsgeschichte ab. Bedrohlich – rührend: sehr unterhaltsam.