Tod statt Sinnlichkeit

Rebecca Saunders, Ed Atkins : LASH

Theater:Deutsche Oper Berlin, Premiere:20.06.2025 (UA)Regie:Dead CentreMusikalische Leitung:Enno Poppe

„LASH“ an der Deutschen Oper Berlin wälzt die bekannten Themen der Oper: Liebe, Sex und Tod. Komponistin Rebecca Saunders versucht mikroskopisch nah heranzugehen, dass statt der Sinnlichkeit der Tod lauert. Das Kollektiv Dead Centre erzeugt in der Regie ein Riesenbild der Liebenden aus der Perspektive der Gestorbenen.

Wie würden Sie sich an die Liebe und den Sex Ihres Lebens erinnern, wenn Sie schon tot wären? Nächste Frage bitte? Nicht für die Komponistin Rebecca Saunders. Sie macht aus den möglichen Antworten auf diese Frage für die Deutsche Oper Berlin an der Bismarckstraße eine große zweistündige Oper mit Namen „Lash – Acts of Love“. Eine Starbesetzung steht bereit. Mit der Berliner Sopranistin Anna Prohaska teilen sich ihre Kollegin Sarah Maria Sun, die Altistin Noa Frenkel sowie die Schauspielerin Katja Kolm die Rolle einer „Frau, in der Erfahrung des Todes gehalten.“  Trotz der rätselhaften Verse aus dem Stücktext von Saunders und Autor Ed Atkins ist bei dieser Uraufführung unübersehbar: Saunders besitzt einen unbestechlichen Sinn für eine opernhafte, großformatige Bühnensprache für die heutige Zeit und das moderne Musiktheater.

Lash bedeutet in der Muttersprache der gebürtig britischen Komponistin unter anderem Wimper. Das Video einer geschlossenen, aber live und pulsierend sich bewegenden Wimper auf einem den gesamten Bühnenausschnitt überspannenden Transparent – es wird zur Signatur der Aufführung. Die ersten Geräusche, die hierzu von der Bühne in den Zuschauerraum dringen, könnten bereits Musik sein. Oder lustvolles Gestöhne? Eher das Röcheln einer Sterbenden?

Bühnenraum zwischen Sex und Tod

Die nah aufnehmende Videokamera berührt fast das Gesicht der Darstellerin Katja Kolm: In einem würfelförmigen Raum, als Schlafzimmer ausgestattet, liegt sie im Hintergrund auf einem Bett mit zerwühlten Kissen – die aber mit Plastikfolie abgedeckt sind wie nach einem Leichen-Abtransport im Krankenhaus. Genau wie diese suggestiv zwischen Sex und Tod schwankende Szenerie wird die Haut aller Darstellerinnen in dem Video in Szene gesetzt: Die Darstellung bewegt sich genau auf jener Grenze, wo pornographisch in pathologisch ausgestelltes Fleisch übergeht.

Immer wieder neue Zimmer-Würfel wachsen wie Fahrstuhlkabinen aus dem leeren, flachen Bühnenboden. Irgendwann liegt in einem Bett eine Leiche – die sich als die stetig filmende Live-Kamerafrau entpuppt. Entsprechend erscheint auf dem Bühnenprospekt das Riesenbild der Liebenden aus der Perspektive der Gestorbenen – ein weiterer Kunstgriff, um die Frage des Stückes von Neuem zu formulieren: das Liebeserlebnis nach dem Todeserlebnis nachzufühlen.

Die Bilder zur Musik

Das britisch-irische Kollektiv Dead Center mit den Theatermachern Ben Kidd und Bush Moukarzel bereitet mit solchen Bildern immer wieder von Neuem den Boden für eine Musik, die das Publikum quasi körperlich umfangen soll. Tatsächlich geht das Orchester bereitwillig an die Grenzen seiner expressiven Möglichkeiten, legt unter Enno Poppe eine beeindruckende Gesamtleistung hin – gerade wenn allmählich aus der Tiefe der Klänge sich eine flächig gleitende Musik über alle Register hinweg entfaltet.

Deutsche Oper Berlin Lash

Mikroskopisch nah heran geht es durch Video-Elemente in der Inszenierung von „LASH“ an der Deutschen Oper Berlin. Foto: Marcus Lieberenz

Trotzdem gibt es ein Missverhältnis für die Wahrnehmungsorgane eines Großstadtpublikums. Dieses Missverhältnis hat mit der Diversität von sinnlichem Erleben in einer maximal individualisierten Gesellschaft zu tun: Die Sinnesantennen der Komponistin Rebecca Saunders sind offenbar um ein Unendliches feiner als die Sinnesantennen sowohl des restlichen künstlerischen Teams als auch des visuell geprägten, sinnliche Visualität fordernden Publikums. Die Videos über Körperteile, Haare und blutige Augäpfel werden zugleich immer raffinierter und drastischer. Das kunstvolle musikalische Geschehen im Orchestergraben und auf den Seitenemporen kann mit der Intensität dieser visuellen Reize nicht ganz mithalten. Wie sehr Saunders zu haptisch umhüllenden Klängen fähig ist, würde wohl paradoxerweise in einer konzertanten Aufführung ohne Riesenfilm viel deutlicher.

Überlebensgroßes körperliches Gefühl

Für eine feinfühlige und formidable Opernkomponistin liegt das Bedürfnis nahe, körperliches Gefühl im Musiktheater überlebensgroß darzustellen. Im Rahmen eines traditionellen Opern-Apparats führt dieses Bedürfnis über jenen Bereich hinaus, wo noch alle Elemente vom Hörbaren bis zum Sichtbaren gleichberechtigt sind. Da zeigen sich – kleiner geht diese Feststellung hier nicht – auch die Grenzen von Aufklärung. Wie viele Opernschaffende vor ihr hat Rebecca Saunders die genuinen Themen der Oper gewälzt: Liebe, Sex und Tod.

Saunders aber ruft Sinnlichkeit und praktiziert Vernunft. Sie kann nicht dem rationalen Dogma der Aufklärung widerstehen, dass es für die Hervorrufung von Sinnlichkeit nötig sei, mikroskopisch nah an die Dinge heranzugehen – wie zuerst der Marquis de Sade und später die Pornographie. Die Ahnung, dass dann statt der Sinnlichkeit der Tod lauert, hat Saunders zwar in ihr Stück amalgamiert. Dass Live-Musik sich anders als Video nicht unendlich synthetisch vergrößern lässt und dass Musik ihren Charme auch zuweilen aus einer gewissen Entfernung entfaltet, wäre einen Gedanken wert.