Foto: Ensemble des Staatstheater Nürnberg Ballett © Jesús Vallinas
Text:Dieter Stoll, am 9. Dezember 2016
Im ersten Stück dieses denkwürdigen Abends, der Europa-Premiere von Mauro Bigonzettis „Antiche Danze“, wird die ohnehin kaum zu bändigende Bewegungsfreude in denkbar entspanntester Kulturrevolution aus dem Korsett höfischer Tänze befreit. In der zweiten Produktion, einer Uraufführung von Nürnbergs Ballettdirektor Goyo Montero, vereinigen sich Compagnie und Opernchor zum Experiment gemeinsamer Suche nach Wurzeln und Wucherungen der Spiritualität. Der Titel „Monade“, die vollkommene Einheit unterschiedlicher Prinzipien beschwörend, wird gleichzeitig die klammernde Überschrift für beide Teile. Es ist der Traum von der Aufhebung der Gegensätze, die miteinander verschmelzen ohne sich dabei aufzugeben, und der ist schon im Miteinander der beiden Choreographen repräsentiert.
Eigentlich wollte Mauro Bigonzetti für diesen Abend ja sogar ein neues Ballett schaffen, aber die eskalierende Krisensituation am Teatro alla Scala, wo der langjährige Großmeister des Ensembles Aterballetto als Spartenchef schon nach acht Monaten aufgab, blockierte das Vorhaben. Man kann es fast dankbar vermelden, denn die ersatzweise angebotene Premiere einer bisher nur in Lateinamerika gezeigten Kreation ist nicht nur ein Wunderwerk spielerischer Artistik, es passt auch perfekt als Gegenpol zur nie nachlassenden Grübler-Poesie im Oevre von Montero, ist absolut krampffreier Beweis für dessen These, dass der Weg zum Vollkommenen aus vielen Richtungen ins Ziel führen kann.
Goyo Montero, der das Nürnberger Publikum vor zwei Wochen mit der Vertragsverlängerung ab Herbst 2018 hinein in die neue Intendanz von Jens-Daniel Herzog erfreute, hatte sich viel vorgenommen. Nicht unbedingt vom spirituellen Thema her, das gehört zu seiner gedanklichen Grundausstattung, aber im Ehrgeiz, die Tanz-Compagnie mit dem Opernchor zu einer schöpferischen Art von zumindest andeutungsweise gemeinsamer Bewegungs-Ästhetik zu formen. Entlang an der Auslese von 13 Geistlichen Bach-Kantaten organisierte er die Verbindung, aber der scheinbar naheliegende Vergleich mit Alain Platels radikalen Bach-Choreographien ist schnell aufgelöst. Hier gibt es den Zweifel nicht wirklich, die Attacke sowieso nie. Montero, der bekennende Sensibilist, baute für den kombinierten Einkehrtag (zusammen mit Bühnenbild-Partnerin Eva Adler) eine etwas arg einschüchternde Kathedrale, die – obwohl er ausdrücklich nicht den Gottesdienst in seiner religiösen Tiefe sondern die Zeremonie des Spirituellen untersuchen will – Demuts-Melancholie als Grundhaltung verordnet. Tänzer und Sänger sind von den Kostümen her eine Einheit, in der Körpersprache eher nicht. Trotzdem ergibt sich ein faszinierendes choreographisches Zusammenspiel aus dem ritualisierten Schreiten lebender Skulpturen und den wie aus anonymer Menge ausbrechenden Tanz-Aktionen.
Die Choristen sind verkabelt und bleiben trotz dieser Verstärkung bei solistischen Einsätzen befangen. Im Kollektiv funktioniert das besser, obwohl man kaum behaupten kann, dass die Gesänge unter den Bewegungsabläufen und ihrem Sauerstoffbedarf gar nicht leiden. Der dirigierende Chordirektor Tarmo Vaask begleitet, ja betreut seine Sänger hingebungsvoll beim modifizierten Wandertag, macht die Staatsphilharmonie auch beim anderen Stück zum ambitionierten Dienstleister. Die Sehnsucht nach der Vollkommenheit spiegelt sich in der ganzen Choreographie, die es auf tragbaren Podesten und in geballten Gruppenbildern immer wieder, unabhängig im Umgang mit der theologischen Ankündigung von „viel Trübsal“, eindrucksvoll mit der Auflösung der Gegensätze und der Mixtur der Talente probiert. Am Ende kniet ein Tänzer allein dicht an der Bühnenrampe und zelebriert seine liturgische Pantomime, an deren Ergründung der Zuschauer daheim weiter arbeiten kann. Monteros „Monade“ gibt seine Geheimnisse nicht einfach so preis.
Bei Mauro Bigonzettis „Antiche Danze“, aufgeladen mit der Jahrhunderte umspannenden Dynamik von Ottorino Respighis Musik, geht es nicht um Todesahnung sondern um Lebensfreude. Die Verarbeitung alter Klänge zum Sound des 20. Jahrhunderts gibt dem Stück einen ungeheuer belebenden Kick. Zu den biegsam gemachten Zitaten höfischer Rituale ist ein Spalier von zehn Paaren höchst erfolgreich dabei, die Fesseln der Konvention in Schmuckstücke zu verwandeln. Die Frauen haben Reifröcke über den Kopf hochgezogen und sind nun Blumen, aus deren Blütenkelchen ihre Arme winken. In den Lichtkorridoren, die das Bühnenbild ersetzen, erblühen danach atemberaubend komödiantische Szenen, in deren Artistik der Drang zur Schwerelosigkeit manifestiert ist. Die neu formierte Nürnberger Ballett-Compagnie bewältigt diese augenzwinkernd dicht an Zirkus und Show entlang schrammende Performance bravourös unangestrengt. Es ist die reine Freude. Die „Monade“, die perfekte Einheit unterschiedlicher Ausdrucksweisen, ist gelungen. Stürmischer Beifall für beide Stücke und einiges an Extra-Bravo für Goyo Monteros Entscheidung, in Nürnberg zu bleiben.