Oder ist das die Aussage, dass es also schlicht egal ist, wie abgestimmt, was gesagt, gedacht wird? Politik ist vor allem Erhalt aktueller Machtsysteme, das Volk nur Stimmvieh? Spannende Fragen. Die Ausgangssituation bei Saramago wie für die „Münster – Stadt der Sehenden“-Uraufführung ist die tiefe Vertrauenskrise der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie: Stell dir vor, es ist Wahl – und 83 Prozent der Stimmzettel bleiben kreuzlos: weiß. Eine Provokation wie eine weiße Leinwand im Museum. Menschen haben sich emanzipiert, die Grinse-Scharlatane des selbstherrlichen Polittheaters durchschaut und daraus Konsequenzen gezogen? Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit bedeutet, sich dem bedeutungslosen Ritual der Wahl sowie den Politikern die Legitimation ihrer Jobs zu verweigern? Aber was passiert jetzt? Anarchie? Chaos? Kannibalismus? Diese Angstvorstellungen treiben wohlmeinende Menschen in Münster und anderswo zum kleineren Übel: lieber doch eine Partei wählen.
Bei Saramago sind sie, ein weißes Zeichen setzend, mutiger. Und die Staatsmacht entsprechend empört. Sie will die Freiheitsnahme einer „missbräuchlich legalen Auslegung“ des Wahlrechts „brutalst möglich aufklären“. Also deuten. Als unpatriotischen Frevel? Anschlag aufs System? Weltweite Verschwörung? Nicht mit diesen Inhalten, aber mit der Irritation spielt die Aufführung. Gezeigt werden unterschiedliche Reaktionen: Politiker legen ihr Amt nieder und wechseln auf die Widerstandsseite, andere wollen den Protest aussitzen, setzen daher einen Untersuchungsausschuss ein, wiederum andere fordern strafende Rache. Bespitzelung, Verhöre, Folter und militärische Isolation der Wahlverweigererstadt sind die Folge, als gelte es, eine hoch infektiöse Terrorzelle zu bekämpfen. Aus einem demokratischen System wird ratzfatz ein totalitäres Regime. „Ein gut organisierter Staat darf eine solche Schlacht nicht verlieren, das wäre das Ende der Welt. – Oder der Beginn einer neuen.“ Auf der Textebene sind die zentralen Aussagen der Vorlage also vorhanden, auf der Assoziationsebene kommt ein wenig „Empört euch!“-Rhetorik hinzu, auf der Bewegungsebene wird versucht, ein bisschen Freiheit zu tanzen. Aber eine eigenständige Auseinadersetzung mit dem Thema, eine theatrale Übersetzung, ein mutiges Hinaus ins Offene utopischen Denkens, all das ist leider nicht zu erleben. Gute Schauspieler sind engagierte Animateure und ordentliche Kabarettisten für einen unterhaltungswilligen Regisseur. Willkommen bei einem netten Kleinkunstabend!