Foto: Szene aus der Recherche "2030 - Odyssee im Leerraum" © Dorothea Heise
Text:Jens Fischer, am 15. Januar 2016
Landleben – ist im Zeitschriftenkiosk ein hochglänzender Magazinhit für Schöner-Wohnen-Freunde. An der harten Faktenfront der Demografen aber wird es als aussterbende Art gehandelt. Die Bevölkerung der kleinen, in die Landschaft geschmiegten Siedlungen wird immer älter und schrumpft zahlenmäßig. Während die Städte eher wachsen und gerade die jüngere, noch nicht so verwurzelte Generation aus den Dörfern lockt. Für die Kreise und Kommunen wird es daher zunehmend schwieriger, eine funktionierende Infrastruktur etwa bei der ärztlichen und kulturellen Versorgung oder für die Ausbildung der Kinder sicherzustellen. Bald ist der Schulbus der einzige öffentliche Nahverkehr. Arbeitsgeber verschwinden. Kaufläden aller Art, Kneipen, Kinos, Kitas schließen. So das noch weniger Menschen auf dem Land leben wollen. Ein Teufelskreis.
Südniedersachsen ist dem demografischen Wandel sogar gut zehn Jahre voraus. So wird jetzt auf der Bühne des südniedersächsischen Jungen Theaters behauptet. Um 20 Prozent schrumpfe die Bevölkerung pro Generation. Ganz naiv mal hochgerechnet und die aktuelle Flüchtlingszuwanderung außer Acht gelassen, bedeute das, in 2155 sei die Gegend menschenleer. Behauptet ein Schauspieler. Dieses Thema für sozialpolitische Kongresse, entwicklungspolitische Tagungen, arbeitsmarktpolitische Sitzungen und Treffen regionaler Förderfondsverwalter – muss also auch ein Drama fürs Theater sein. „2030 – Odyssee im Leerraum“ nennt der regieführende Intendant Nico Dietrich seinen Dokutheaterabend. Wobei Odyssee etwas anmaßend klingt, zehn Jahre hat die Recherchereise nicht gedauert, eine sprichwörtliche Irrfahrt war es genauso wenig und als gefährliches Abenteuer begegnet einem im Großraum Göttingen bestenfalls ein Wolf.
Experten des demografischen Wandelalltags hat Dietrichs Team interviewt, dann aber nicht in die Aufführung eingebunden, sondern vom Theaterensemble darstellen lassen. Weißkittel an: Wissenschaftler. Windjacke an: Bauer. Jackett an: Bürgermeister. Dietrich lässt sie reden. Viel reden. Meist unwidersprochen. Und meist mit diesem überzeugten Strahledauergrinsen, als wären es alles geschulte PR-Leute in eigener Sache. Was vielleicht auch daran liegt, dass viele der Zitatgeber im Uraufführungspublikum sitzen. Und daran, dass man eben nicht den Tod der Dörfer feiern oder betrauern will, sondern mit einem alten Rhetoriktrick die Krise als Chance behauptet. Es muss doch Alternativen dazu geben, die vergreisende Region mit immer neuen Altenheimen künstlich am Leben zu erhalten, als Landschaft der Geisterstädte touristisch zu vermarkten oder einfach alles abzureißen und zu renaturieren. Revitalisierung ist gefordert. Für die große Vielfalt der Lebensformen: Dort wäre doch Platz. Und Wohnraum ist so günstig, geht aus der Textcollage hervor. Zurück in die Zukunft des Dorflebens!
Erstmal wird aber überreichlich Zahlenmaterial zur Situation vortragen – wie bei einer echten Konferenz. Und auch anschließend kommt die Aufführung nicht so recht vom Fleck, findet keinen Spannungsbogen, keine narrative Rahmung und viel zu selten zu vitalen Spielszenen. Mit den mal melancholischen, mal optimistischen O-Tönen der Betroffene berichten die Schauspieler den Göttinger Oberzentrumsmenschen aus den Klein- und Kleinstzentren. Beispielsweise einem 720-Seelen-Dorf. Früher gab es dort, wird erzählt, eine Vielzahl an Läden, Lokalen und sogar eine Bank, alles nun geschlossen, heute ist man froh über einen Geldautomaten und einen Kiosk, der ein paar Tage die Woche vormittags geöffnet hat. Was stimmt da positiv? Die Bewohner haben sich zusammengesetzt und in eine Biogasanlage investiert. Nachhaltig sei man nun autark von Gas und Öl, jeder Haushalt spare zudem 800 Euro pro Jahr. Das habe den Gemeinsinn gefördert. Und was stimmt negativ? Als auch Windräder gebaut werden sollten, zerstritt sich das Dorf wieder – und zwar nachhaltig. Einer der wenigen Aufführungsmomente, den Dietrich auch kommentiert: Er lässt das Ensemble „Kein schöner Land“ singen und projiziert dazu das Bild zweier Windkrafträder, die nicht mit dem hügelig grünen Agraridyll harmonieren. Von einem weiteren Scheitern berichtet der Bürgermeister von Osterode, dem Landkreis mit dem bundesweit höchsten Seniorenanteil. Wider den Mitgliederschwund schlug er vor, Sportvereine zu fusionieren und die vielen, immer kleinformatiger werdenden Schützenfeste zu einem großen zusammenzulegen. Was passiert? Die Traditionalisten, Schauspieler mit Jägerhut, wenden sich bockig empört ab. Also müssen Neubürger her. Und Touristen. Und Investoren. Und Flüchtlinge. Mit der „hohen Lebensqualität“, gemeint ist die tolle Natur, wirbt der Bürgermeister. Schwärmt von einer übersichtlichen, sozial engagierten Kleinstadtgemeinschaft. Umstandslos stellt Dietrich dazu Marketing-Formulierungen in seinen Theaterraum: Leerraum zu Lehrräumen, Dörfer zu Experimentierfeldern. Bietet im Fachleutedeutsch den ganzen Abend über viel zu wenig Konkretes an, das dann in etwa so klingt: Akteursnetzwerke von Raumpionieren könnten in strukturschwachen Gegenden Geimwohl-prägende Daseinsvorsorge-Projekte realisieren …
Die „Odyssee“ präsentiert so vor allem Sprachoberflächen. Stimmen und Stimmungen. Ohne recht Stellung zu beziehen. Ohne wirklich Nähe zum Thema herzustellen. Warum nicht vor Ort mit den Bewohnern ihr Stück Heimat inszenieren, biografisch, historisch, utopisch? Oder Signa-mäßig Leerstände bespielen und Zuschauer zum Mitleben einladen: mal gucken, was dort gehen könnte? Demografischer Wandel als Frontalunterricht-Theater überzeugt jedenfalls nicht so.