Foto: Der König tanzt?. Sebastian Soules (Oedipe) und der Chor der Theater in Altenburg und Gera © Ronny Ristok
Text:Roland H. Dippel, am 13. April 2018
Kay Kuntze inszeniert George Enescus „Oedipe“ in Gera – eine grandiose Mammutproduktion
Für die internationale Musiktheaterlandschaft gehört „Oedipe“ wie Schoecks „Penthesilea“, Szymanowkis „Roger Kiraly“ oder Dukas‘ „Ariane et Barbe-Bleue“ zu den größten Mutproben betreffend Aufwand und Anspruch. Ein zentrales Bekenntniswerk im Schaffen des rumänischen Komponisten George Enescu, ein Kraftakt für dramatische Stimmen und Chöre, eine reale Herausforderung für visuelle Magier wie La Fura dels Baus (Brüssel 2011) und Charakterköpfe wie Hans Neuenfels (Frankfurt 2013).
Jetzt haben Theater & Philharmonie Thüringen die Mittel des 2017 erhaltenen Theaterpreises des Bundes in diese Mammutproduktion investiert. Auf der musikalischen Seite schlagen sie sich grandios, auf der szenischen hochachtbar. Den Opernchor erweiterte man mit zwölf Gästen auf 36 Sänger. Unter den ersten Parkettreihen, im Orchestergraben, auf der Hinterbühne und in den Proszeniumslogen wurde jeder Kubikzentimeter freigeschaufelt, um die Monumentalbesetzung mit zwei Harfen, Celesta und singender Säge unterzubringen. Der riesige, ja überwältigt-erschütterte Applaus in Anwesenheit des rumänischen Botschafters in der Bundesrepublik Deutschland galt nach der Premiere im Theater Gera nicht nur dem Aufwand, sondern vor allem dem inneren Gehalt dieser Partitur, die sich jeder Kategorisierung in „-ismen“ des frühen 20. Jahrhunderts widersetzt. Bis zur Uraufführung an der Oper Paris 1936 rankten Enescu und sein Librettist Edmond Fleg ein Lebensbild um die Tragödie Sophokles‘, die zum dritten und dramatischsten Akt der Oper wurde. Auch durch die Entstehungszeit von über zwanzig Jahren ist diese „lyrische Tragödie“ über den König von Theben, der unwissentlich seinen Vater tötet und seine Mutter ehelicht, singulär.
Generalintendant Kay Kuntze und Generalmusikdirektor Laurent Wagner stellen sich auch den Grand-Opéra-Fakturen der Partitur. Sie beweisen mit der wissenschaftlichen Beratung durch Ulrich Sinn, dass man die Ikonographie der attischen Kultur opulent in Szene setzen kann. Thebens Militarismus contra Korinths Dekadenz: Zopffrisuren, Stier- und Widdermasken, glänzendbunte Roben für ein fundiert gespiegeltes Hellas mit Verfremdungen durch heutige Materialien. Duncan Hayler konterkariert seine Kostüme mit geometrischen Bühnenelementen, die er in ein der antiken Bühne nachempfundenes Halbrund setzt. Mit der Regie schafft er mindestens zwei weitere Sinnebenen. Großartig führt Holger Krause den Opernchor, Dagmar Stollberg steigert mit den Kinder- und Jugendgruppen die bewegte Fülle und getragenen Bewegungen. Bei seiner finalen Transformation umfängt ein Baum aus Menschenleibern Oedipe im heiligen Hain von Kolonos. Immer wieder offenbart sich das Werk als eine Schnittstelle zwischen großer Oper und szenischem Oratorium.
Iokastes Entbindung von Oedipe sieht man: Eine blutrote Nabelschnur fällt von oben durch die Öffnung eines runden Panzers, dessen Geflecht aus Adern unter der Kuppel einer panzernden Gebärmutter ähnelt. Durch diese Öffnung tastet sich Oedipe später aus der Last seiner irdischen Existenz in die jenseitige Höhe empor. Sein Extremschicksal und in der Oper thematisierte Befreiung aus schuldlos-schuldigen Verstrickungen werden zum Paradigma. Dieser Protagonist ist ein „Jedermann“ und steht für uns alle: Immer wieder scheinen christologische Bezüge in Kay Kuntzes Inszenierung auf. Der sich blendende Oedipe tritt wie der Leidensmann im Lendenschurz vor die Masse, die ihn erst verherrlicht und alsbald verhöhnt. Oedipe wird zum Auferstandenen beim Schlusschor, dessen Verse in Massenet-Fauréhafter Sakralaura den Seligpreisungen der Bergpredigt ähneln.
Der trotz zweier Hufeisenränge nicht allzu voluminöse Raum des Theaters Gera begünstigt die verdichtende Nähe des Publikums zur Bühne. So wähnt man sich durch die prägnante Akustik nicht vor, sondern mitten im Klang. Das fördert den gewaltigen Erkenntnisgewinn: Trotz Laurent Wagners Totaleinsatz für sinfonische Fülle und Farbengemische hört man vom Philharmonischen Orchester Altenburg-Gera deutlich abgesetzte Konturen und Enescus genau durchdachte Wechsel des motivischen Materials zwischen Sängern und Instrumenten. Die verschiedenen Kolorits der vier Akte erhalten Schärfe. Man hört also die Strukturen dieser Musik, nicht nur betörende Rauschhaftigkeit. Auch dadurch steigert sich die Geraer Produktion zum packenden Erlebnis. Die Ebenen der Szene finden im Orchestergraben ihre durchdachten Entsprechungen.
Weniger durch die Konfrontationen mit den Massen als in den Reibungen Oedipes an den Prophezeiungen hat die Produktion in dem erst spät verpflichteten Bariton Sébastien Soulès den idealen Protagonisten: Intelligent, mit starker Emphase faszinierend, jugendlich in der vokalen Expression und alterslos von Erscheinung. Mit ihm modelliert Kay Kuntze im zweiten Akt zwei herausragend bewegende Szenen: Den Horror vor dem prophezeiten Inzest mit der (Adoptiv-)Mutter Merope (Pihla Terttunen für die vorgesehene Christel Loetzsch) schwitzt Oedipe aus jeder Pore, seine Sehnsucht nach Nähe und Zärtlichkeit ebenso. Wie ein von gestraffter Sehne abgeschossener Pfeil motivieren sich von diesem Moment aus seine langen Monologe, neben denen fast alle anderen Solisten Stichwortgeber bleiben. Béela Müller mit packender Intensität als (echte) Mutter und Gattin Iokaste, Johannes Beck als zu plakativ-böser Kreon mit Goldmaske, Miriam Zubieta als Tochter Antigone, Timo Rößner als trotz verbrecherischer Energie ephebisch-unbedarfter Laios und Kai Wefer als Seher Theiresias. Sie alle haben nur wenig Zeit zur vokalen Profilierung, heizen die Emotionen im Spiel mit starker Präsenz an. Ulrich Burdack wird durch die Besetzung in gleich drei Partien zum langen bassgewaltigen Schatten Oedipes und zum Repräsentanten des unerbittlichen Schicksals, das immer siegt.
Blutrote Augen glimmen über dem Mord am von Oedipe nicht erkannten Laios. Die Sphäre der diabolischen Sphinx ist ein ekliges und videoscharfes Madengewimmel, in dem jede Existenz endet. Dieser zweite Akt wird zum Höhepunkt der Inszenierung, nicht weil die Sphinx (gespielt von Juliane Stephan) sich bauchtänzelnd und schlangenglatt in ihren definitiv rampensicheren Auftritt windet, sondern weil Sébastien Soulès diesen Initiationsritus zum Implodieren bringt. Gemeinsam mit ihm überwindet die Geraer Erstaufführung die Gefahren des Werks, der verführerischen Monumentalität und der letztlich epischen Dramaturgie: Ein Sieg auf ganzer Linie und ein hochkarätiger Höhepunkt der seit Jahren intelligenten Musiktheater- und Konzert-Gestaltung.