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Das Holländer-Happening

Richard Wagner: Der fliegende Holländer

Theater:Oper Halle, Premiere:23.09.2016Regie:Florian LutzMusikalische Leitung:Josep Caballé-Domenech

Nehmen wir die Inszenierung des „Fliegenden Holländers“, mit der Florian Lutz gestern seine Intendanz an der Oper Halle eröffnete und sich auch gleich als Regisseur vorstellte, einfach mal als musikalische Performance. Unter diesem Aspekt funktioniert die Show bestens. Die Zuschauer sind gleichsam mit an Bord, wenn der Opernsegler in See sticht. Sie werden zum Einchecken auf verschiedene „Decks“ gebeten und hören dort, mit Schlafbrillen vor Augen, die Ouvertüre wie entrückt in ein stockdunkles Nirgendwo. Danach stürzen die Eindrücke aus dem von Sebastian Hannak geschaffenen Theaterraum um so heftiger auf die wieder sehend Gewordenen ein, man hat auf der Bühne oder im Zuschauerraum freie Platzwahl und findet sich so unversehens inmitten der Sänger und der szenischen Ereignisse wieder. Der Trubel dreht sich irgendwie um guten und bösen Kapitalismus, um Fremde und Einheimische, um die Ideologien von grenzenloser Selbstoptimierung und wundersamer Weltverbesserung im freien Spiel der ökonomischen Kräfte… Von allen Seiten wird man zugedonnert mit Bühnenaktionen, Videosequenzen und Texteinblendungen, so dass einem vor lauter aktuellen Bezügen und individuellen Assoziationen schier der Kopf schwirrt.

Kein Wunder, dass es unter den gesetzteren Zuschauern anfangs einige ziemlich betretene Gesichter gab, beim Augenverschließen zur Ouvertüre auch etliche Verweigerer und bei der durch die Kulissen trampelnden Platzsuche ein wütendes Getuschel, ob man nicht lieber doch noch schnell über Reling springen solle, bevor dieses Narrenschiff endgültig ablegt. Aber je länger, je mehr entfaltete das Bühnengeschehen, das ungefiltert durch Abstand und Portal und, in der pausenlosen Urfassung der Oper, ohne Unterbrechung auf die Zuschauer einstürmte, eine vom gesamten Ensemble getragene Sogkraft, die ein Markenzeichen vieler Florian-Lutz-Inszenierungen ist. So was kann er einfach. Face to face einander gegenübersitzend, konnte man hübsch beobachten, wie selbst jene Herrschaften, die zunächst etwas hartleibig in den Kulissen hockten, langsam auftauten und sich vom Holländer-Happening mitreißen ließen. Irgendwann waren alle irgendwie überwältigt – und applaudierten am Ende den Sängern und dem Regieteam ausdauernd.

So war diese Eröffnungspremiere auch ein Statement für eine andere Art von Musiktheater, die das Publikum unmittelbar mitnimmt und dabei keine bildungsbürgerliche Kunstkonventionen voraussetzt, sondern einfach nur Offenheit und Erlebnishunger. Die Musik wird zum Soundtrack, die Handlung zur Erlebnisfolie, der Zuschauer zum Komplizen der Theatermacher. Bei der Premiere ist dieses Statement angenommen worden. Und man darf gespannt sein, wie Florian Lutz und seine Truppe – sein Stellvertreter Veit Güssow, der Chefdramaturg Michael v. zur Mühlen und der Generalmusikdirektor Josep Caballé-Domenech – ihr Projekt Neues Musiktheater in Halle weitertreiben werden.

Man darf aber vielleicht auch daran erinnern, dass es an diesem Abend um Wagners „Romantische Oper in drei Akten“ ging. Und es ist nicht ganz leicht zu beurteilen, wie sich Lutz’ Inszenierung zu dieser „Vorlage“ verhält. Dient sie ihm lediglich als Material oder will er dem Werk musikalisch und interpretatorisch auf Augenhöhe begegnen? Letzteres jedenfalls wäre ihm über weite Strecken nicht gelungen. Schon die Blinde-Kuh-Aktion zu Beginn verlief holperig, teils weil das beteiligte Vorderhaus-Personal nicht immer sensibel mit verunsicherten Zuschauern umging, teils auch, weil die schiere Menge der des Augenlichts beraubten Zuschauer, die an Tauen auf ihre „Decks“ geführt wurden, selbst bei bester Führung nur schwerfällig zu handeln war. Als dann endlich die ersten Töne einsetzten, klang die akustische Übertragung des im teilweise überbauten Graben sitzenden Orchesters auf die Bühne so blechern, dass sich – zumindest bei mir – im blinden Hören keinerlei musikalische Überwältigung einstellen mochte. Dafür hörte man die Schnitzer der bemerkenswert unpräzise musizierenden Staatskapelle Halle umso deutlicher.

Letzteres wurde auch später nicht besser. Josep Caballé-Domenechs Dirigat fand bei der Premiere nie zur großen Linie. Manches kam manieriert schnell, anderes ebenso manieriert langsam, alles schien eher auf den momentanen Effekt angelegt als auf die musikdramatischen Entwicklungen, die Wagner in seinem „Holländer“ aufspannt. Und das, was den Abend szenisch zum Erlebnis machte, die ungewöhnlichen räumlichen Konstellationen, machte den Sängern und dem Chor zu schaffen. Immer wieder klapperte die Koordination. Und dass die Sänger den Raum vom vordersten bis zum hintersten Winkel zu bespielen hatten, motivierte sie zu einem Kraftaufwand, der der Gesangskultur nicht zuträglich war.

Ralph Ertel gelang als Erik noch die stärkste Leistung: vom Typ her eher ein italienischer als ein deutscher Tenor und manchmal etwas grell auftrumpfend, aber die Stimme sitzt prima, ihr Klang ist präsent, die Figur prägnant. Heiko Trinsinger ist ein markant konturierter, aber oft undifferenziert lauter Holländer, der das finster Auftrumpfende dieses geisterhaften Seehelden gut hörbar machte, aber leider nicht sein Seelenleid, seine Gebrochenheit. Dorothea Herberts Senta schmiegte sich weich ins Legato und blühte beizeiten leuchtend, blieb aber viel zu lyrisch. Ihrem Sopran fehlt der dramatische Furor, die impulsive Attacke – und damit eine ganze Dimension dieser Figur. Vladislav Solodyagin Daland klingt voll und sonor im Timbre, aber auch er drehte viel zu oft viel zu sehr auf.

Und was wird uns nun eigentlich erzählt? Oder, wenn „Erzählung“ vielleicht gar nicht das Ziel des postdramatischen Abends ist: Welche Sinnebenen erschließt die Inszenierung? Auf jeden Fall sehr viele. Nur leider keine wirklich zwingend. Die Attraktion des Abends ist Hannaks Raumbühne, die unter dem vielsagenden Namen HETEROTOPIA (mit den besten Empfehlungen von Monsieur Foucault) als eigenes Konzept fungiert und auch in anderen Produktionen zum Einsatz kommen wird. Zuschauerraum, Orchestergraben (bis auf die Schallöffnung) und eigentliche Bühne sind von einer weißen, in verschiedene Ebenen und Räume geteilten und gestuften Architektur überbaut. Die Vorbühne bildet beim „Holländer“ die Hauptspielfläche, hinten haben die barbieblonden Frauen ihre Puppenstubenkammern, wo sie beim Chor der Spinnerinnen ihren weiblichen Pflichten obliegen: Hausputzen, Heimwerken, Bodybuilding, Bonsaipflege, Beine enthaaren, Dildos kneten – was Braut eben so macht, wenn Seemann auf See ist. Der Chor, sofern er die Mannschaft Dalands verkörpert, trägt orangene Sicherheitswesten mit der Aufschrift „Solar Valley“ und gelbe Schutzhelme, auch einige Zuschauer, die auf der Bühne Platz gefunden haben, werden so eingekleidet (Kostüme: Mechthild Feuerstein). Inmitten aber steht ein altmodischer weißer Ford mit der vielsagenden Autonummer ER-IK H4. Hm…

Daland bewegt sich vor den omnipräsenten Kameras (Video: Konrad Kästner) mit der eitlen Gestik des mediengeilen Politikers. Und der Holländer ist mit den Flüchtlingen verbandelt, die man heutzutage ja wahrlich als die Verdammten der Meere bezeichnen kann. Er verteilt Handys an sie, ist einer (seiner?) Flüchtlingsfamilie besonders zugetan. Und als seine Mannschaft im dritten Aufzug zu geisterhaftem Leben erwacht, durchbrechen die Flüchtlinge eine Absperrung, es kommt zu Gewalttaten. AfD-Slogans und andere politische Botschaften flimmern über die Screens, auch der Holländer betreibt offenbar eine eigene Website, wo er in Chats angehimmelt wird. Hat er seine Reichtümer als Schlepper angehäuft? Oder ist er ein wirtschaftlich erfolgreicher Immigrant und Held der Willkommenskultur – und gerade deshalb für Senta so attraktiv, die sich der abgeschotteten Puppenstuben-Kapitalistenwelt von Firmenvater Daland so völlig entfremdet hat? Möglich ist vieles, klar ist wenig. Am Ende aber gibt es tatsächlich so etwas wie eine Erlösung: Die Daland-Mannschaft legt Westen und Helme ab, die Seemannsbräute entledigen sich ihrer Schürzen und Blondhaarperücken, die Flüchtlinge pellen sich aus Decken und Kopftüchern, und plötzlich entsteht da eine gemeinsame Gesellschaft, in der alle „integriert“ sind. Das ist sehr schön – auch weil es hier wirklich eine substantielle Verbindung zu Wagners Intentionen gibt. Meist aber purzeln die Sinnebenen so turbulent und munter durcheinander, dass man kaum Zeit hat, sich auch noch zu fragen, was das eigentlich genau mit dem „Holländer“ zu tun hat. Tut man’s trotzdem, sitzt man ziemlich oft etwas ratlos in all dem Trubel herum.