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Bruder Tschechow

Anton Tschechow, Gavin Quinn, Richard Walsh, Daniel Reardon, Bush Moukarzel, Derrick Devine: Americanitis Presents The Seagull and other Birds

Theater:FFT Düsseldorf, Premiere:13.11.2014 (DE)Vorlage:Anton Tschechow: Die MöweRegie:Gavin Quinn

Eine Befreiung. Tschechows Text ohne Illustration, ohne falsche Melancholie und Großschauspieler-Pathos, ohne zwanghafte Relevanz oder verzweifelte Dekonstruktion. Einfach „Die Möwe“. Und plötzlich wirkt alles ganz heutig, spürst du als Zuschauer den Menschenbeobachter, Menschenkenner, Menschenfreund mit allen Sinnen, verstehst du auch, warum da „Komödie“ steht, obwohl sich einer umbringt. Weil es komisch ist, wie eitel und selbstbezogen alle sind, wie sie ihrer Gier, ihrer Sehnsucht ausgeliefert sind. So etwas hat es schon gegeben, natürlich. Vor über 20 Jahren hat Louis Malle einen Film gemacht, „Vanja on 42nd Street“. Da hat er eine Durchlaufprobe von „Onkel Wanja“ gezeigt, mit angedeuteter Deko, mit Alltagsklamotten und in einem abgeranzten Theater. Aber das vielfach ausgezeichnete Pan Pan Theatre aus Dublin präsentiert seinen Tschechow auf einer Bühne, ein Stück auch über das Theater, mit den Mitteln des Theaters.

Die tiefe FFT-Bühne ist leer bis auf ein ausgebreitetes weißes Tuch. Rechts eine Ballettstange, ein Klavier, ein Requisitentisch. Links ein Mischpult. Alle Mitwirkenden tragen Ballettoutfits, als Rollennamen verwende sie ihre realen Vornamen. Trotzdem: Obwohl sie, sie kommen ja aus Dublin, durchgängig Englisch sprechen, vermittelt sich von Beginn an eine klare Geschichte, schält sich „die Möwe“ schnell heraus. Immer wieder wird die konzentrierte Handlung unterbrochen, aufgeraut, durch Fremdtext-Schnipsel, irgendwo aufgeschnappt oder von den Gruppenmitgliedern geschrieben und eingefügt. Sie haben lustige Vogelnamen wie Basstölpel oder Austernfischer und verfremden die Figuren überhaupt nicht, sie verstärken sie eher, machen sie reicher und weiter. Immer wieder wird getanzt, auf unterschiedlichem Niveau, immer schön anzusehen, in der Mitte des kurzen Abends sogar – natürlich – Schwanensee. Und dem Publikum wird von Anfang an klar gemacht, dass es dazugehört, durch einen charmanten Meta-Rahmen, durch oftmaliges Anschauen, durch knappe, partizipative Elemente. Und wie gut diese Schauspieler sind! Durch die Tütüs und Bodies vor allen Rollenklischees gefeit und stark auf ihre Körper zurück geworfen, wirken sie fast nackt dabei. Der Zuschauer begegnet ihnen unmittelbar, hat das Gefühl ganz nah bei ihnen zu sein, in ihre Seelen schauen zu können. Und da gibt es viel wunderschön anzuschauende Tschechow’sche Leere.

Dass der Abend so packend, entspannt, so ganz heutig ist, liegt sicher auch am gewählten geistigen Ausgangspunkt, am Sprungbrett. „Americanitis“ ist ein Fachbegriff für eine Art Großstadt-Depression, wie sie verstärkt in US-amerikanischen Großstädten auftritt. Der Terminus beschreibt das Gefühl, vom Leben abgehängt worden zu sein, weil es viel zu schnell und oberflächlich geworden ist. Da zählen dann schnell nur noch zwei Dinge: Erfolg in Beruf und Sex. Wer den nicht hat, ist quasi nicht mehr existent. Und so funktioniert „Die Möwe“ auch. Das Pan Pan Theatre zeigt das kraftvoll und sinnlich, sehr diszipliniert und mit unheimlich viel Spaß.