Foto: Bastian Krafts "Dogville"-Inszenierung am Schauspiel Köln © David Baltzer
Text:Bettina Weber, am 6. September 2014
Auf den ersten Blick klingt es wie ein Paradoxon. Ein Regisseur entwickelt einen Film mit den Mitteln des Theaters – und dann inszeniert ein Theaterregisseur diesen Stoff auf der Bühne, um dabei mit den Mitteln des Films zu arbeiten. Der aus der Gießener Theaterschmiede stammende Bastian Kraft hat zum Auftakt der neuen Spielzeit am Schauspiel Köln Lars von Triers „Dogville“ in der Halle des Depot 1 inszeniert und damit eine originäre Theater-Geschichte auf die Bühne zurückgeholt: Der dänische Regisseur arrangierte das Geschehen um das fiktive kleine Örtchen in den Rocky Mountains bekanntermaßen in bester Theatermanier: In einer Halle, mit auf dem Boden kreidekreisartig angedeuteten Häusern (immer wieder aus der Vogelperspektive gefilmt) und äußerst spärlichen Requisiten ist der Film „Dogville“ eigentlich ein abgefilmtes, minimalistisches Kammerspiel. Viele Theater haben daher in den letzten Jahren Adaptionen der Geschichte gezeigt, in der die Bewohner des kleines Dorfes Dogville während der Zeit der Depression die junge, flüchtige Grace zunächst freundlich aufnehmen, ihre Abhängigkeit jedoch zusehends ausnutzen und sie schließlich immer heftiger missbrauchen, bis die anfangs so selbstlose Grace erbarmungslos Rache nimmt.
So konsequent es ist, das Drama dem Theater zurückzugeben, so groß ist auch die Herausforderung, die Geschichte formal auf eine neue Ebene zu heben. Kraft hat für dieses Problem eine kreative Lösung gefunden, die das vermeintliche Paradoxon auflöst. Wie im Film, so bewegt sich die Dorfgemeinschaft auch hier zwischen unsichtbaren Wänden und auf einer schlichten, weißen Fläche. Doch wo der Film durch Licht und minimalistische Konzeption im Vergleich fast zweidimensional bleibt, fügt Bastian Kraft dem Geschehen sozusagen eine dritte Dimension hinzu: Im Bühnenbild von Peter Baur hängt in halber Schräge eine riesige Spiegelfront über dem Podest der Spielfläche, die einerseits dieselbe aus der Vogelperspektive wiedergibt, andererseits Projektionen des live gefilmten Geschehens in Form von Nahaufnahmen der Schauspieler zeigt.
Nun hat es in den letzten Jahren eine große Anzahl von Inszenierungen gegeben, denen der Einsatz von Video nicht unbedingt gut getan hat. Und wo Videos beinahe schon inflationär eingesetzt werden (und nicht selten zum überflüssigen Dekor verkommen) – andererseits aber eben kaum noch aus dem Theater wegzudenken sind, erstaunt es umso mehr, wenn die Arbeit mit filmischen Mitteln noch neue, ungeahnte Effekte erzielt (wie es zuletzt zum Beispiel Kay Voges in Dortmund mit „Das Fest“ gelungen ist). Und obwohl Bastian Kraft den Videoeinsatz nicht in diesem Sinne neu erfindet, entsteht im Zusammenspiel der gezeigten Ebenen ein äußerst einnehmendes Ganzes. Natürlich hat er damit außerdem auch ein praktisches Problem gelöst, denn die riesige Halle des Depot 1 ist ein akustisch wie auch inszenatorisch herausfordernder Raum. Seit Stefan Bachmann seine Intendanz im vorigen Jahr antrat und das Schauspiel in diese Interimsspielstätte wanderte, gab es im Depot 1 in mehreren Inszenierungen Videoprojektionen und den Versuch, den Zuschauer damit in der Weite der großen Halle näher ans Bühnengeschehen heranzuholen – selten sind sie im Ergebnis so gut gelungen wie hier.
Zugegeben: Ein etwas gezielterer Videoeinsatz (anstatt des beinahe dauerhaften) wäre womöglich eindrucksvoller gewesen, zumal die verschiedenen visuellen Ebenen dem Zuschauer eine hohe Konzentration abverlangen und auch ein erhebliches Ablenkungspotenzial mit sich bringen. Doch der Aha-Effekt überwiegt. Die Inszenierung zwingt den Zuschauer permanent zu dem Perspektivwechsel, den die Geschichte im Kern ja verlangt: Wer gehört hier zu den Hunden? Die immer gieriger werdenden Bewohner? Oder die im wahrsten Sinne des Wortes an der immer kürzeren Leine gehende Grace? Und wer ist eigentlich böse? Sind es wirklich nur die Dorfbewohner oder tut es ihnen Grace mit ihrer blutrünstigen Rache am Ende nicht gleich? Getragen wird die Inszenierung überdies von einem großartig zusammenagierenden Ensemble, und einer zugespitzten, aber zielgenauen Figurenführung.
Zuletzt eröffnet Bastian Kraft noch eine weitere Perspektive. Der Spiegel, den das Theater der Gesellschaft ja im übertragenden Sinne immer vorhalten will, wird zu einem echten, indem die Wand langsam herunterschwebt und das Publikum sich selbst ins Gesicht schauen muss. Halb die Zuschauer spiegelnd, halb die hinter der Wand stehenden Schauspieler zeigend, verschwimmen auf der bebenden Spiegelfront Darstellung, Fiktion und Realität. Mit ihr pulsieren die Zuschauer, die, wie mit einer imaginären 3D-Brille ausgestattet, plötzlich mitten in der Brecht’schen Parabel sitzen. Am Ende überlebt in Dogville nur der „echte“ Hund Moses, und die Stadt hat ihrem Namen wieder alle Ehre gemacht.