Foto: v.l.n.r. Jarrett Porter (Punch), Cecelia Hall (Judy), Liviu Holender (Choregos) © Monika Rittershaus
Text:Martina Jacobi, am 12. Dezember 2025
Im Bockenheimer Depot zeigt die Oper Frankfurt Harrison Birtwistles selten aufgeführtes Werk „Punch and Judy“ in Wolfgang Nägeles Regie. Basierend auf derb-brutal traditionellem, englischen Puppentheater eröffnet die Inszenierung mit einem tollen Ensemble einen Blick in menschliche Abgründe.
„Pupaphobie“ heißt der Grusel vor dem eigentlich so unschuldigen Puppen-Spielzeug. Sie sind Menschen dann eben doch ein Stück zu ähnlich, aber ohne das Menschliche: starrer Blick, steife Bewegung, kalter Körper. Dass ist unheimlich, sobald sich sowas von selbst zu bewegen beginnt…
Punch ist das englische Pendant zu Kasperle, zur italienischen Pulcinella oder russischen Petruschka. Und der traditionell erzählte Inhalt (in diesem Puppentheater für Kinder!) ist mehr als derb: meist tötet Punch Baby und Frau, begeht daraufhin noch weitere Morde. Von den mit echten Darsteller:innen gezeigten Grausamkeiten aus dem Figurentheater in Birtwistles erstem Opern-Werk entsetzt, verließen mehrere Zuschauer:innen bei der Uraufführung 1968 in Aldeburgh wohl den Saal, darunter Benjamin Britten plus Lebensgefährte. Dabei hatte gerade Britten Birtwistle dem Aldeburgh Festival empfohlen.
Eingängig ist diese Oper keinesfalls. Sie erinnert bald an Wilhelm Buschs gruselige Max und Moritz-Geschichten. Auf Missetat folgt Missetat. Nur trickst Punch in Birtwistles Werk sogar seinen Schöpfer den Puppenspieler und somit seine Kontrollinstanz/sein „letztes Gericht“ und die einhergehende Bestrafung aus und das Werk endet mit dem Verfall der Moral und dem Sieg der Anarchie.
Düster-poetisches Libretto
Stephen Pruslins Libretto hat es ganz schön in sich: düster-poetisch, mehrdeutig, für vielschichtige Interpretationen eine einladende Grundlage. Die dort gezeichnete Welt verortet sich in Verlassenheit, Schrecken und Angst irgendwo zwischen Himmel, Erde und Hölle. Thilo Ullrichs Bühnenbild zeigt dazu ein Bild zwischen brutaler „A Clockwork Orange“-Ästhetik von 1971 und Greta Gerwigs „Barbie“-Kitsch: Ein weiß gekachelter Metzgereiraum reiht sich in vier hin- und herfahrende Guckkastenräume ein, einer ist himmelblau gestrichen mit weißen Schäfchenwolken drauf.
Das ist total drüber, denkt man schon zu Beginn, als Punch sein Baby durch den Fleischwolf zieht und auf der anderen Seite eine rosa Wurstkette erscheint. Jarrett Porter mimt ihn schauerlich mit weit aufgerissenen Augen und weißem Zähne-Grinsen, während er unerbittlich an der Maschine dreht. Gekleidet sind er und die anderen vier Puppendarsteller in grelle Plastikkostüme – Punch im Kasperle-Grün, Judy im blauen Kleid – und mit hellblonden Prince Charming- und Prinzessin-Perücken (Kostüme: Marlen Duken).

v.l.n.r. Danae Kontora (Pretty Polly), Sven Hjörleifsson (Lawyer), Cecelia Hall (Judy), Jarrett Porter (Punch), Alfred Reiter (Doctor), Liviu Holender (Choregos; im Vordergrund). Foto: Monika Rittershaus
Diabolisch lächelnd serviert Punch seiner Judy in einer silbernen Glocke eins der frisch produzierten Würstchen. Judy – Cecelia Halls runder, klarer Mezzosopran bricht das bisher musikalisch eher kantige Spiel – wird entgegen der originalen Opernhandlung nicht von Punch erstochen, sondern suizidiert sich selbst. Die Charaktere zerreißen hier weniger aneinander, sondern an der eigenen Qual und Ohnmacht ihrer Gefühlswelten, eine gar nicht so realitätsferne Lesart.
Zum skurrilen Spiel und der mit viel Liebe zum Detail erstellten Ausstattung und szenischen Umsetzung malt Birtwistles Musik den schauerlichen Soundtrack. Der Musikapparat sitzt schräg links vor der Bühne, die einfache Stimmbesetzung macht alle 15 Musiker:innen zu Solist:innen und Mehrfachinstrumentalist:innen: Klarinette in b und Es, Bassklarinette, Sopransaxophon, Claves, Harfe, Kontrafagott und so weiter. Daraus schöpft Alden Gatt am Pult Birtwistles reiches Klangspektrum aus, perkussiv-rhythmisch, stellenweise aber auch warm-melodiös.
Menschliche Grausamkeits-Fantasie
Durch Punch kommen nicht nur das Baby und Judy, nein auch der „Lawyer“ (Sven Hjörleifsson) und der „Doctor“ (Alfred Reiter) zu Tode. Die moralisch-soziale Ordnung ist dahin. Das alles mit Punchs Ziel, zu seiner „Pretty Polly“ zu gelangen – klar, Grund der Grausamkeit ist die Begierde zu einer Frau, einem verqueren Schönheits- oder Liebesideal. Polly – Danea Kontora im pinken Kleid mit riesiger Haarschleife – köpft mit einer Gartenschere Barbies, dabei sitzt sie in einer Art pinker Gummizelle.

Liviu Holender (Jack Ketch; im Vordergrund hängend), hinten: Jarrett Porter (Punch), Danae Kontora (Pretty Polly). Foto: Monika Rittershaus
Die übergeordnete Ebene dieser Oper ist der Erzählrahmen des Puppenspielers selber. Vor der Guckkastenbühne sitzt dieser, Liviu Holender, vor seinem kleinen Aufführungshäuschen und sagt Punchs Gewalt-Taten voraus. Die surreale Dystopie setzt dem eins obenauf, als die Figuren schließlich von der Bühne herabsteigen und ihrem Erschaffer begegnen, Frankenstein lässt grüßen. Der Fiktion-Realitäts-Crush gelingt durch das Zerbrechen der Schaukastenbühne und viel Lichtflackern (Licht: Joachim Klein). Die menschlich-grausame Fantasie erwacht zum Leben, Achtung Einbahnstraße.
Kein letztes Gericht
„Weiht den Schmerzaltar“, „Träumer fürchtet die flammende Lust“, „die Verlierer werden gefoltert“, so heißt es im Libretto (deutsche Übersetzung). Schließlich legt Punch hier dem zum Henker gewordenen Puppenspieler selbst die Schlinge um: Kein letztes Gericht für seine Grausamkeits-Spirale. Der auch in Birtwistles Musik anklingenden Hoffnung durch oder auf Liebe zeigt der Stoff den Stinkefinger.
Der anspruchsvollen Partitur scheint sich das Ensemble spielend leicht zu stellen. In Pollys spitz-hohen, mechanischen Partien sitzt bei Danae Kontora jeder Ton. Jarrett Porters Bariton dringt durch Punchs Wahnsinns-Ritt auch das komponierte Lachen. Cecelia Halls Judy hat in Spiel und Stimmklang noch die menschlichsten Züge. Das staksig-komische Gebaren der Figuren ist dabei gruselig und stellenweise zum Lachen komisch.
Dem im Werk angelegten tiefenpsychologischen Spiel gibt Wolfgang Nägele Raum durch die räumliche Verschiebung des Spiels runter von den Guckkasten-Bühnen rein in menschliche Abgründe. Dabei sind die im Programmheft angekündigten Stroboskop-Effekte sicherlich nicht das Verstörendste in dieser düster-tiefen und sehenswerten Produktion.