Foto: Sandra (Jessica Niles) fürchtet sich. © Stephan Rabold
Text:Michael Kaminski, am 20. Juni 2025
An der Staatsoper unter den Linden in Berlin inszeniert Regisseurin Marie-Eve Signeyrole Bernard Foccroulles Oper „Cassandra“. Darin verbinden sich die die Geschichte der Klimaforscherin Sandra mit der trojanischen Seherin Cassandra aus dem alten Griechenland.
Alexander Island liegt im Westen der Antarktis. Dort finden sich unter anderem der Mount Liszt, die Brahms-Bucht und das Bach-Shelfeis. Die junge Klimaforscherin Sandra Seymour nimmt das rapide Abschmelzen des Letzteren als Beispiel, um ihre Zuhörerschaft in gleichermaßen sachkompetenten und launigen Vorträgen von der Notwendigkeit des Klimaschutzes zu überzeugen. Ihre Weck- und Warnrufe verhallen nahezu ungehört. Kaum anders als die der trojanischen Seherin Cassandra. Am Ende fiel die Stadt des Priamos in Schutt und Asche, heute droht im Zeichen der Erderwärmung gar der Weltuntergang. Doch stellten und stellen sich viel zu viele den Sehenden und Mahnenden gegenüber taub.
Klimawandel und Mythos
Der belgische Komponist Bernard Foccroulle und sein kanadischer Librettist Matthew Jocelyn führen in ihrer 2023 an „La Monnaie“ uraufgeführten Oper „Cassandra“ den homerischen Mythos der Ungehörten und die Bewandtnisse ihrer Nachfahrin im Seherrinnenamt parallel. Ob nun – wie die Trojanerin – vom abgewiesenen Apollon dazu verdammt, ihre Prophezeiungen in den Wind zu sprechen, oder – wie im Fall der Klimaforscherin – von den nach den Bodenschätzen der Antarktis gierenden Bergbaugesellschaften und den sie finanzierenden Banken ignoriert zu werden, die Adressierten verschließen die Ohren.
Foccroulle und Jocelyn implementieren dies mit sicherem Gespür für das Theatrale in die Konflikte der trojanischen Unheilverkünderin mit ihren Eltern Priamos und Hecuba wie auch Sandras mit ihrem Vater, einem Montaningenieur und ihrer Mutter, einer Bankerin. Offenbar um die Zeitebenen zwischen griechischem Mythos und Gegenwart zu verschränken, zieht ein Geisterchor seine Bahnen. Völlig zeitlos hingegen schwärmen Bienen durch den Raum, freilich auch sie Opfer menschlicher Vergehen gegen die Schöpfung. Denn das anfängliche Bienenvolk zeigt sich fortschreitend bis auf wenige Restexemplare vernichtet.
Dem Summen und Schwirren der Honigproduzentinnen widmet Tonsetzer Foccroulle drei naturalistisch-zwischenspielhafte Klanggemälde. Doch kommt das Werk über weite Strecken als beinahe amerikanisches Gegenwarts-Musiktheater daher. Weniger aufgrund gelegentlicher Jazz-Einsprengsel. Weit eher des in englischer Sprache verfassten Librettos halber. Fouccroulles staunenswertes Sensorium für die Singstimme schmiegt sich dem Text geradezu an. Noch in Cassandras Verzweiflungsausbrüchen waltet das Sangliche. Freilich ist daran ferner jene belgische Musiktheatertradition beteiligt, wie sie etwa vom 2022 verstorbenen Philippe Boesmans verkörpert wurde.
Neigung zu Stereotypen
Regisseurin und Videofilmerin Marie-Eve Signeyrole bedenkt die aus „La Monnaie“ in die „Lindenoper“ übernommene Uraufführungsproduktion allzu sehr mit Klischees. Die trojanische Seherin wandelt so düster und verzweifelt über die Bühne, wie es ihr von jeher zukommt. Klimaaktivistin Sandra darf als Inbild wissenschaftlicher und menschlicher, immerfort auf die Rettung der Menschheit bedachter Lauterkeit gelten. Dies, obschon Tonsetzer und Librettist Sandras bedenkliche Seite nicht unterschlagen. Permanent Gehör fordernd, hat sie für ihre Schwester zunächst durchaus kein Ohr.
Der stückimmanenten Tendenz der Elternfiguren zum Abziehbild wirkt die Spielleitung nicht entgegen. Ingenieur und Bankerin sind den Klassenkampf herausfordernde Profithaie. Signeyroles Videos zeigen auf dem Rundhorizont dahinschmelzende Eiswüsten. Die Livevideos indessen warten immerfort mit Close-ups auf, dann und wann mit aufwühlenden. Fabien Teigné setzt einen multifunktionalen Kubus auf die Bühne. Eisberg, Bienenstock samt Waben, Bibliothek und Wohnung – der Würfel gibt vieles her.
Bewegende Prophetinnen
An der Lindenoper nimmt man sich des Werkes in manchem überzeugend an. Der Chor des Hauses unter Dani Juris dürfte getrost noch mystischer klingen. Anja Bihlmaier geht mit der Staatskapelle eher analytisch denn mit dramatischer Verve an die Partitur heran. Gelegentliche Eruptionen dürfen, wenn nicht an Lautstärke, so an Durchschlagskraft gewinnen. Für die Titelpartie gebietet Mezzosopranistin Katarina Bradić über viel vokale und spielerische Tragödinnenleidenschaft. Lyrisch grundiert und zugleich durchsetzungsstark verkörpert Sopranistin Jessica Niles Klimaschützerin Sandra. Ihren Geliebten Blake gibt Valdemar Villadsen. Mit diesen schließen sich alle weiteren zum gediegenen Ensemble zusammen.
Übrigens finden final trojanische Seherin und Klimaaktivistin über Zeit und Raum hinweg zusammen. Da glimmt ein Funken Hoffnung auf.