Anna Sohn (Brunhilda) und SergeY Romanovsky (Mérowig)

Frenetische Filmoper

Ernest Guiraud, Camille Saint-Saëns: Frédégonde

Theater:Oper Dortmund, Premiere:20.11.2021 (DE)Regie:Marie-Eve SigneyoleMusikalische Leitung:Motonori Kobayashi

Louis Gallets Drame lyrique „Frédégonde“ mit drei Akten von Ernest Guiraud und zwei von Camille Saint-Saëns wühlt in den Eingeweiden der frühmittelalterlichen Geschichte wie der gleichnamige Roman von Felix Dahn. Es gibt kaum eine andere Oper, in der eine weibliche Titelfigur mit derart mannigfaltigen Schimpfworten attackiert wird wie die merowingische Emporkömmling(in) Frédégonde. Die Partitur belegt, dass sich seit Gounods „Roméo et Juliette“ und Thomas‘ „Hamlet“ in Sachen Massenspektakel großer Opern für Paris trotz César Francks „Hulda“ und Massenets „Esclarmonde“ nicht allzu viel getan hatte. Ernest Guirauds Anteile lassen tendenziell eher an einen sanften Einfluss Wagners – vor allem der „Walküre“ – denken, während Saint-Saëns offenbar intensiv über Verdi – vor allem dessen französische „Don Carlo“-Fassungen – nachdachte. Mit Ausnahme einer Produktion 2017  an der Nationaloper Vietnam in Saigon, wo Saint-Saëns seine Arbeit an dem 180-minütigen Opus vollendet hatte, war es um dieses nach der Pariser Uraufführung am 18. Dezember 1895 lange still. Jetzt kam es im Rahmen des wegen der Pandemie bis 2025 ausgedehnten „Wagner-Kosmos“ um die „Ring“-Inszenierung Peter Konwitschnys an der Oper Dortmund heraus.

Konzentration auf ein Duell der Rivalinnen

Gallet schenkte sich die von Dahn breit ausgemalten Begebenheiten, in denen Frédégonde mit viel Sex-Appeal an die Spitze der royalen Eliten Westeuropas gelangt. Er konzentrierte sich vor allem auf die Rivalität Frédegondes mit der von ihr inhaftierten Brunhilda. Nur aus Angst unterstellter Nähe zu Wagner kam die apart leidende und liebende Brunhilda nicht in den Titel. Dabei ist „Frédégonde“ so etwas wie die Doku-Soap zum Streit der Königinnen im Nibelungen-Heldenepos: „Fried“ heißt „der Friede“, „Gund“ ist „die Schlacht“: Eine explosive Mischung, von der sich die Oper Dortmund bei insgesamt drei Konzept- und Premierenanläufen wegen Corona kein noch so schmales Detail entgehen ließ.

Das Publikum saß nur auf den Rängen und erhielt so die seltene Gelegenheit, zu den Begebenheiten der westrisch-ostrischen Mordgeschichte nicht emporzublicken, sondern auf die hier schwer bekrönten Häupter hinab. Der imposante, mit viel Kriegs- und Bürgerlärm beschäftigte Chor (Leitung: Fabio Mancini) sang und stand im Parkett. Die Dortmunder Philharmoniker spielten auf der Hauptbühne. Sie und Montonori Kobayashi kämpften anfangs etwas gegen die zu offene Akustik, aber das störte so wenig wie die nicht ganz makellos mit der französischen Prosodie verwachsene Sängerbesetzung. Gesungen wurde auf Messers Schneide mit irrwitzigem, passioniertem Engagement. Man glaubte dem schon durch seine vokale Kondition sagenhaften Ensemble jedes Wort und jeden Ton dieses Blut- und Hormonrausches. Es erübrigt sich die ergänzende Anmerkung, dass die Stiftung Palazetto Bru Zane mit Noten- und geplanter CD-Edition mit von der Partie ist.

Wölfin, Blutgespenst, Schlächterin vor gefilmter Schlosskulisse

Frédégonde – die Wölfin, das Blutgespenst, die Schlächterin! Aber Gallet war zu nobel für das deutsche H-Wort mit vier bzw. französische p-Wort mit sechs Buchstaben. Nichts bezeichnet trefflicher die Erlesenheit, mit der Guirauds, Saint-Saëns‘ und Paul Dukas‘ (er instrumentierte eifrig) Figuren sich und die merowingische Welt erledigen. So etwas muss man erst einmal in Szene setzen können. Intendant Heribert Germeshausen konnte als szenische Alternativlösung, sofern Corona „Frédégonde“ doch vereitelt hätte, der Familie Knyphausen die freundliche Genehmigung entlocken, mit vollem Personal und nur einer Kamera in und um Haus Bodelschwingh bei Dortmund drehen zu dürfen. Die historistische Edel-Immobilie mit angemessenem Ölgemälde- und Bibliotheksinventar ist ein Traum für Anhänger morbider Sujets wie „Pelléas“, „Haus Usher“ oder „Marmorbild“. Dieser Film der Regisseurin Marie-Eve Signeyrole und ihres künstlerischen Partners Laurent La Rosa entstand mit taktiler und sensibler Schnitt-Synchronie zur Partitur. Vor der großen Leinwand spielten die Solisten und wirkten trotz ihrer riesigen Stimmen doch recht klein.

Das hätte trotz der vielen Verdopplungen gründlich daneben gehen können und gelang doch bezwingend gut. Denn das Publikum musste in stetiger geistiger Bewegung bleiben zwischen den von der Historie in die Belle-Époque wechselnden Kostüme (Yashi), die einem subtilen Plan gehorchenden Wechsel von Farbe zu Schwarzweiß sowie den schwindelig machenden historischen Daten: Mord, Machtmissbrauch, Moralverlust als Dauer-Befeuerung. Fabein Teigné zeigte sich für die Dekorationen sparsam. Fulminant, was sich an einer Schachpartie im Film und der szenischen Doppelgängerinnen von Frédégonde und Brunhilda erzählen lässt. Der andere Spielraum war eine lange Tafel mit von unten erleuchteten Tellern, an der die Figuren lieben, hassen und meucheln. Immer mit Doppelsinn: Für den Film waren die Vorbilder offenbar Claude Chabrol und Peter Greenaway, für die Spielszenen der opulent-pathetische Pier Luigi Pizzi. Die Mischung macht’s – und wie.

Denn ohne ins Geschmäcklerische zu fallen, knackt die Inszenierung die enorme Absturzgefährdung zwischen metaphorischer Erotik und subtiler bis drastischer Grausamkeit. Dreimal tanzt die Kamera um die Figuren: Wenn sich das Paar Brunhilda und Mérowig aus den politischen Fesselungen in die erotischen fallen lässt, wenn Frédégonde zur Rachegöttin wird und wenn sie schließlich den tödlichen Stahl langsam in den – wenn man den Filmbildern glauben will – von ihr insgeheim begehrten Mérowig bohrt. Die lange Chorfläche nach dessen Trauung mit Brunhilda, die Duette der Frauen mit den neben ihnen recht mickrig wirkenden Männern und das Tableau finale sind Momente, die sich als frenetische Synthesen von Ekstase und Radau ins Gedächtnis bohren. Keine erstklassige Musik, aber eine einschüchternde und blendende. Typisch Paris mit einer Massenet, Reyers „Sigurd“ und Chaussons „Le roi Arthus“ vergleichbaren Suggestionskraft. Allen Mitwirkenden gelang es, die verdächtig hohe Reißleine auch nach der Pause, im Saint-Saëns-Teil, zu halten.

Die exzessive, höchst dekorative, emotional aufreizende Dauerspannung dankte man einem starken, satten Ensemble. Mit Ausnahme von Anna Sohn als Brunhilda, die eine der wenigen schwebenden Soli des Abends sang, war keine Leistung wirklich makellos. Aber das störte kaum. Die männlichen Sympathieträger kamen in dieser vergröberten Maria-Stuart-Konstellation desto beklagenswerter unter die Intrigenräder der fraulichen Hyänen. Denis Velev mit lyrischen Bassmomenten in einer bösen Folterszene und vor allem Sergey Romanovsky als Königssohn Mérowig mit Rehaugen, die ihm im Machtstrudel zwischen seiner Stiefmutter und deren Rivalin auch nichts halfen. Romanovsky ist aufregend. Er hat berstende Energie und menschliches Charisma in der Stimme wie wenige. Damit wird die Diven-Erregung um ihn voll verständlich. Hyona Kim meistert mit voller Wucht und imponierend die von Guiraud und Saint- Saëns dem Weibsteufel Frédégonde zugemuteten Tiraden von Mezzo-Tiefen und Sopran-Expressionen. Erregungs- und Erschöpfungszustände waren bei Darbietenden und Publikum identisch. Ovationen prasselten – zwangsläufig leiser als die musikalischen Lautstärken – auch auf Frédégondes armen Königsgatten Hilpéric (Mandla Mndebele), den sanften Balladensänger Fortunatus (Sungho Kim) und den straffen Lehnsmann Landéric (Demian Matushevskyi). Was für ein Stück!