„Petruschka” beim Staatsballett Berlin

Zweimal Wuppertaler Tanzerbe

Marco Goecke / Pina Bausch: Strawinsky

Theater:Staatsballett Berlin, Premiere:10.06.2023Komponist(in):Igor Strawinsky

Beim Berliner Staatsballett zeigte der Doppelabend  „Strawinsky” Stücke von Marco Goecke und Pina Bausch, in denen Geschlechterklischees keine Rolle spielen. Beide haben Wuppertals Tanzerbe geprägt.

In den Programmen des Hamburg Balletts findet sich immer der Hinweis „Vor der Aufführung zu lesen“, verfasst fast immer von John Neumeier. In Berlin sollte man allenfalls die Inhaltsangabe der jeweiligen Vorstellung überfliegen, um anschließend ganz unvoreingenommen dem Ballettabend die volle Aufmerksamkeit zu schenken. Der „Petruschka“, mit dem das Staatsballett seine „Strawinsky“-Premiere eröffnet, hat ohnehin wenig mit dem zu tun, was die finnische Tanzforscherin Hanna Jærvinen im durchaus attraktiv gestalteten Programmheft unter dem Titel „(Un)Sichtbare und (Un)Hörbare Stereotypen am Beispiel ‚Petruschka‘ und ‚Le Sacre du printemps‘“ kritisch hinterfragt. Marco Goecke schafft sich noch immer seine eigene Sicht des jeweiligen Stücks, und in der spielen gängige Geschlechterklischees keine sichtbare Rolle.

„Petruschka“ und Goeckes Ausdruckskraft der Hände

Das ist auch seiner „Petruschka“-Interpretation nicht anders, die er 2016 zur gleichnamigen Burleske von Igor Strawinsky ursprünglich fürs Ballett Zürich geschaffen hat. Ohne sein eigenes, eher abstraktes Körpertheater aufzugeben, lässt er das Publikum dennoch das Puppige ahnen, das Michail Fokine 1911 im Auftrag der Ballets Russes auf so prägende, man könnte natürlich auch sagen: auf so stereotype Weise ausgestaltet hat. Schwarz sind wie immer die Hosen Michaela Springers. Vor einem ebenso schwarzen Hintergrund lassen sie umso markanter den fleischfarbenen oder nackten Oberkörper seiner Interpreten hervortreten. Denn der ist seiner Meinung nach beredt genug, auch wenn Goecke auf blitzschnelle Beinbewegungen nicht verzichtet. Vor allem Ausdruckskraft der Hände hat es ihm hier angetan, die Haltung des Körpers, der Rücken. Unglaublich, was sich damit alles sagen lässt. So wirkt Petruschka, den Kopf geduckt, durchweg wie ein Prügelknabe, während sich sein Rivale, wie der Mohr jetzt in Berlin weniger angreifbar nennt, stets zu imponierender Größe reckt.

Mehr braucht es eigentlich nicht, um der Fantasie auf die Sprünge zu helfen. Der schwarze Vorhang öffnet sich einen Spalt, und schon haben wir ein Marionettentheater, das ganz im Kleistschen Sinne funktioniert: übermenschlich und zugleich doch so berührend menschlich im Mikrokosmos seiner Gesten, mit denen Marco Goecke immer wieder aufs Neue fasziniert. Ein paar Worte, ein Kichern, nachtschwarze Luftballons und ein bisschen Zähneklappern – und schon erlebt man in der Lindenoper einen Grand Guignol, der sein totes Gebein aus der rechten Kulisse streckt, während auf der Linken der Petruschka Alexandre Cagnats unsterblich wirkt.

„Das Frühlingsopfer“ auf Pina Bauschs Torf-Bühne

Fraglos gehört Goecke nach wie vor zu den „außergewöhnlichen Talenten der jungen Choreografengeneration“, wie ihm das Pina Bausch 2004 in weiser Voraussicht attestiert hat. Wie sie wünscht man sich aller selbstverschuldeter Vorfälle zum Trotz, „dass er die Möglichkeit bekommt, seine sehr besondere, vielversprechende Arbeit weiter zu entwickeln.“ Zum ersten Mal sind beide im „Strawinsky“-Abend des Staatsballetts vereint: die einst in Wuppertal wirkende Tanztheaterchefin mit ihrem „Frühlingsopfer“ aus dem Jahr 1975 und der nicht weniger stilbildende Wuppertaler, der in ihrem Umfeld zu einer ganz eigenen Tanzformung gefunden hat. Wirklich vergleichen lassen beide (noch) nicht. Mit ihrer „Sacre“-Interpretation steht Pina einzig da, auch wenn sie wohl ganz bewusst Vaslav Nijinsky zitiert, den Choreografen der legendären Pariser Skandal-Uraufführung.

Torf bedeckt auch in Berlin die Opernbühne, und der erdige Boden ist mit ein Grund, weshalb das Staatsballett mit der Zeit seine klassisch geschulte Leichtigkeit verliert und hörbar atmend allmählich die Wahrhaftigkeit ahnen lässt, die man aus dem Jahr 1975 noch in so guter Erinnerung hat. Bewegende, geradezu erschütternde Impulse ermöglicht auch die Staatskapelle Berlin unter Leitung von Giuseppe Mentuccia, und deshalb ist es so spannend zu beobachten, wie die Choreografie auch von diesem Ensemble Schritt um Schritt Besitz ergreift. Spätestens mit dem Opfer-Solo von Clotilde Tran löst sich der Knoten, und wie befreit tanzt am Ende das Staatsballett in eine Zukunft unter Christian Spuck, die hoffentlich ebenso Aufregendes bringt.

Ein starker Abend, den man sich auch ein zweites Mal anschauen kann. Dann sogar nach einer intensiven Programmheftlektüre.