Foto: Die famose Marie Goudot mit Cellist Jean-Guihen Queyras © Anne Van Aerschot
Text:Ulrike Kolter, am 25. August 2017
Anne Teresa De Keersmaeker hat für die Ruhrtriennale Bachs „Cello-Suiten“ choreographisch umgesetzt. Und tanzt selbst mit.
Mehrfach schon hat sich Anne Teresa De Keersmaeker in ihrer Arbeit mit den Werken Johann Sebastian Bachs beschäftigt: Er mache das Göttliche menschlich und das Menschliche göttlich, so formulierte sie es. Nun hat sich die belgische Choreographin mit dem renommierten Cellisten und Schüler von Pierre Boulez, Jean-Guihen Queyras, für ein ambitioniertes Projekt zusammengetan: Bachs vielgespielte „Cellosuiten“ in einer choreographischen Analyse derart zu sezieren, dass deren Rhythmik und Struktur sinnlich erlebbar werden. Auch Grundformen der Geometrie wollte sie einbinden, was mit einigen Abstrichen ein intensiver, puristischer Abend wurde. Der Titel „Mitten wir im Leben sind“, ein Luther-Zitat und Bach-Choral, stand dann erst eine Woche vor der Uraufführung fest.
Wir befinden uns in der Zeche Zweckel in Gladbeck, in der letzten Saison der Ruhrtriennale unter Johan Simons, zur zweiten großen Tanzpremiere. Tageslicht geht in Dämmerung über, alle Fenster sind weit und symmetrisch 90 Grad geöffnet. Spätestens ab der vierten von sechs Suiten wird es in der riesigen Industriehalle sehr dunkel sein, was im Grunde schade um all die Bewegungsdetails ist, die man dann schlichtweg nicht mehr erkennen wird. Die sechste Suite in D-Dur soll hell strahlen, deshalb musste wohl vorher viel optische Reduktion aufgebaut werden…
Gemeinsam mit drei Tänzern und einer Tänzerin ihrer Compagnie „Rosas“ steht De Keersmaeker selbst mit auf der Bühne. Die Grundstruktur des Stückes orientiert sich formal am Aufbau der Komposition und ist in den ersten vier Suiten identisch: Der Cellist nimmt vor jeder Suite auf seinem Hocker an verschiedenen Positionen der Bühne Platz, während De Keersmaeker mit jeweils einem Tänzer bunte Linien auf den Boden klebt, die später als Pentagramme erkennbar werden. In den ersten vier Suiten tanzt jeweils ein Tänzer der Compagnie eine Suite, wobei die Choreographin immer zur Allemande dazu stößt und Paartänze entstehen, die Elemente höfischer Barocktänze zeigen: langsames Schreiten, ausgebreitete Arme, Zugewandheit der Köpfe. Darüber hinaus verlaufen die in Turnschuhen umgesetzten Bewegungen überwiegend horizontal oder vertikal: Sprünge, Rennen mit schnellen Richtungswechseln, Pirouetten, Liegen – alles exakt an Bachs Komposition orientiert: Triolen, Arpeggien, schwere Chromatik werden sichtbar gemacht.
Die vierte Suite zerfasert leider: Es ist viel zu dunkel, der Cellist verlässt nach den ersten beiden Sätzen die Bühne – und der Tänzer springt und rennt und keucht gegen die Stille an, was irgendwann sehr ermüdet. Zur fünften Suite wiederum musiziert Jean-Guihen Queyras völlig allein, vor beleuchteter Wand, so dass sein Spiel im Schatten sichtbar wird – und der unglaubliche Nachhall des Raumes zu genießen ist. Die Suite Nummer sechs schließlich vereint alle vier Compagnie-Mitglieder und die Choreographin auf hell erleuchteter Bühne, Synchronität im Schreiten neben Chaos im Rennen, Formalität und pralles Leben – beides vereint in Bachs Komposition.