Foto: Caroline Hanke, Merle Wasmuth, Tobias Hoeft (Live-Kamera), Lukas Gander und Björn Gabriel © Birgit Hupfeld
Text:Jens Fischer, am 16. September 2016
Spannend, sehr spannend. Eine Operation am offenen Herzen der Demokratie – um den drohenden Infarkt zu vermeiden. Das ist Joël Pommerats Rückblick auf die Befreiung des menschlichen Denkens zur aufklärerischen Formulierung der französischen Revolutionsmaxime, diesen Mythen für die moderne Ideologiebildung. „Ça ira (1) Fin de Louis“ heißt das Stück. Es funktioniert diskurswillig als hellsichtige Bestandsaufnahme des gestörten Selbstverständnisses der von Zuwanderung und Terrorismus verwirrten, sich national definierenden Europäer. In Dortmund kam der Text nach Ansicht des Autors allzu gekürzt zur deutschsprachigen Erstaufführung, so dass der Verlag diesen Titel verweigerte – nun ist eine „Bearbeitung nach dem Theaterstück“ zu sehen: „Triumph der Freiheit #1“.
Die Nation steht auf schwankendem Boden. Ein auf Federn gelagertes Spielgeviert ist die Bühne. Menschen wanken und rutschen herab, wenn nicht alle ihre Körpergewichte ausgleichend positionieren – ihre Interessen ausbalancieren. Was kaum möglich erscheint bei den durcheinander wuselnden Interessenkonflikten. König Ludwig XVI. hat die verfeindeten Vertreter des Adels, der Kirche und des 3. Standes einberufen, um weitere Kreditaufnahmen und Steuererhöhungen zu ermöglichen. Frankreich ist nahezu pleite. Aber die Reichen wollen ihre Abgaben-Privilegien nicht verlieren und die produktive Mehrheit des Landes will nicht mehr die Hauptlast der Staatsfinanzen tragen. Steuerliche Gleichstellung fordern die Handwerker. Jeder Mensch ist gleich viel wert? Ja, Gleichheit! Der Funken der Französischen Revolution ist entfacht. Aber ist das Land, der Mensch bereit für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Ein grundsätzliches Nachdenken beginnt über die richtige äußere Verfassung einer Republik und wie sie, verinnerlicht, aktiv zu leben sei. Frankreich soll so „aus der Resignation“ gerissen werden, wie es im Stück heißt, das in heutiger Politik- und Talkshow-Sprache der Meinungslobbyisten verfasst ist. Eine Resignation, die Pommerat auch anno 2016 erkannt haben will – verbunden mit der Sehnsucht, als Gemeinschaft wieder zusammenzuwachsen und sich mit tollen Prinzipien um einen neuen nationalen Entwurf zu versammeln. Eine explosive Stimmungslage. Einst und jetzt.
Im Stück erkennt der Adel schnell, dass es ihm an den Kragen geht. Heute ist es die bürgerliche Mitte, die Ruhe und Ordnung statt Umwälzungen will, weil sie Angst vor dem Verlust ihres Lebensstandards hat. In Dortmund repräsentiert ein Bürgerchor diese Position, der sich auch „stützend“ um das Wackelpodest kümmert. Aktuelle Angstmacher benennt Pommerat ebenfalls und flechtet in seinen Text mehrmals Schilderungen über den Zuzug mittelloser Fremder ein, die respektlos und an terroristischen Aktionen beteiligt seien. Gemeint ist das politische Erwachen unter den postkolonialen Muslimen, ihr Pochen auf historische Gerechtigkeit, befeuert vom Durst nach Rache. Laut Pommerat steht die Kraft und Überzeugungskraft des demokratischen Modells infrage – wie einst die Monarchie. Regisseur Ed. Hauswirth hätte auf Tortenattacke oder Politikerwerbung als Youtube-Popmusikclip durchaus verzichten können, es ist die sprachlich brillante Parallelführung der historischen und aktuellen Situation, die dieses Stück so spannend macht.
Bis auf die Königsfamilie sind die Duellanten des Debattendramas keine historischen Figuren, sondern passioniert argumentierende Sprechmaschinen bestimmter Ideen des Jahres 1787. Zu erleben ist das auch heute bekannte Spektrum von der militanten Linken über die gemäßigten Sozialisten und Marktfetischisten bis hin zu den Reaktionären mit vorgeblich christlicher Gesinnung. Auch wenn anfangs alle noch irgendwie Monarchisten sind, weil sie meinen, einen starken Repräsentanten zu brauchen. Bis der 3. Stand sich selbst zum Souverän des Staates ermächtigt. Seine Delegierten konstituieren die gesetzgebende Nationalversammlung. Sie absolvieren und präsentieren nun einen Grundkurs in Rhetorik und einen in Demokratie. Wie ist sind Kompromisse, Koalitionspartner zu finden, um mehrheitsfähig zu werden? Inwieweit diskreditieren die Mittel den Zweck? Das furios gleichberechtigte Ensemble startet Politikerkarrieren und füllt emphatisch parlamentarische Mechanismen mit Leben. Mit leidenschaftlichem Überzeugenwollen, als ginge es immer um alles. Wahnsinnig komplex. Hoch verdichtet. Garniert sind die vielstimmigen Dialoge allerdings mit der Unsitte Widerstreitender: Unterstellungen, Beleidigungen und Niederbrüllarien.
Wir wissen ja wie alles endet – im Durchsetzungsterror der Guillotine wird jedweder Idealismus in Blut ertränkt. Live den Bühnendebatten zugeschaltet wird daher ein TV-Nachrichtensender aus Paris. Bilder revolutionärer Eskalation sind zu sehen, Selbstjustiz wird angeprangert. Und gefragt: Wie viel Gewalt erfordert die Gerechtigkeit? Wie viel Freiheit erlaubt das allgemeine Glück? Der Autor erlöst keineswegs aus dem Dilemma zwischen Fundamentalismus und Realpolitik, das Georg Büchner mit „Dantons Rod“ in die Lethargie des Weltekels, die unstillbare Sehnsucht nach dem Nichts überführte. Pommerat zeigt und befördert die Lust, nochmals von vorn anzufangen mit einer vernünftigen Konstitution des Zusammenlebens. Die Inszenierung folgt ihm darin. Der überflüssig gewordene König betont, „die Schnauze gestrichen voll“ zu haben – merkelt dann aber über das Projekt Revolution: „Wir schaffen das.“ An den Theaterwänden ist final der Schriftzug „Kein Ende in Sicht“ zu lesen. Denn viele Fragen sind gestellt. Nur einige Antworten wurden probiert. Aber vor allem ist das Publikum durch die famosen Dispute der Aufführung nachdrücklich animiert worden, die Operation am offenen Herzen gedanklich fortzusetzen. So geht Theater.