Foto: Szene aus Fromental Halévys "La Juive" © Wilfried Hösl
Text:Joachim Lange, am 27. Juni 2016
Eine Frau wird ausgepeitscht. Dann wird sie öffentlich verbrannt. Weil sie eine Liebesbeziehung zu einem Mann einer Religion hatte, die den Herrschenden verhasst ist. Der kommt – mit typisch männlichem Privileg in einer zutiefst patriarchalischen Gesellschaft – mit dem Leben davon, weil sie die „Schuld“ auf sich nimmt. Die Massen bejubeln hysterisch die Einpeitscher, die die Anderen zur Hölle wünschen und nur nach Vorwänden suchen, um ihrem Hass freien Lauf zu lassen.
All das ist keine Meldung aus dem selbsternannten Kalifat, das gerade gegen jede Zivilisation Amok läuft. Es ist ein Blick in die Geschichte des Abendlandes, wie sie in Fromental Halévys (1799-1862) „La Juive“ aus dem Jahre 1835 erzählt wird. Die spielt eigentlich 1414, also vor über 600 Jahren, am Rande des Konzils von Konstanz, mit dem der katholische Sieg über die aufmüpfigen Hussiten gefeiert wurde. Und bei dem sich der reiche und selbstbewusste jüdische Goldschmied Éléazar nicht an das Gebot der allerchristlichsten Sonntagsruhe hält. Seine Tochter Rachel hat sich obendrein in den Reichsfürsten Leopold verliebt, der die Jüdin über seine wahre Identität als Christ erst aufklärt, als es zu spät ist. Dass das nur in einer Eskalation von Hass auf allen Seiten enden kann, ist schnell klar. Als Rachel schon in den Flammen umgekommen ist, offenbart Eleazar seinem Gegenspieler, dem Kardinal Brogni, triumphierend, dass der gerade seine eigene, tot geglaubte Tochter in den Tod geschickt hat. Die hatte der Jude einst gerettet und selbst als seine Tochter und als Jüdin aufgezogen. Bei alledem geht es mit gewaltigem und beredten Orchester-, Chor- und vokalem Aufwand zur Sache, also an die Wirkung großer Emotionen.
„La Juive“ ist als Grand opéra–Dauerbrenner der nachhaltigste Erfolg des Komponisten. Auch das Verschwinden der Gattung von den Spitzenplätzen des Repertoires und dann vor allem die radikale Unterbrechung der Rezeptionsgeschichte durch die Nazis konnte diesem Musterexemplar wirklich etwas anhaben. Günter Krämers Inszenierung an der Wiener Staatsoper 1999 gehört zu den bleibenden Großtaten der Ära Ioan Holender. In jüngerer Zeit zogen Jossi Wieler in Stuttgart, Peter Konwitschny in Antwerpen, Gabriele Rech in Nürnberg, Oliver Py in Lyon allesamt mit bemerkenswerten Inszenierungen nach.
Es spricht für Nikolaus Bachler, dass er Halevys Jüdin an den Anfang der aktuellen Opernfestspiele gesetzt hat. Damit beendete er eine Abstinenz, die an seinem Haus 83 Jahre währte. Ganz so mutig wie er es selbst nannte ist das freilich nicht mehr. In diese Kategorie fällt eher, dass er den einstigen Skandalregisseur Calixto Bieito dafür nach München verpflichtete. Doch der Katalane, der sich längst selbst aus der Spiel- und Austobegruppe der Regisseure in die Meisterklasse seiner Zunft vorgearbeitet hat, verlegte sich so konsequent auf eine archaisch abstrakte Herangehensweise, dass ihm zwar eine geradezu beklemmende Atmosphäre gelingt, er aber gleichwohl mit dem Genre kollidiert. Mit solch einem Zugriff ist ihm vor gerade mal vier Wochen (!) im Pariser Palais Garnier ein fulminanter „Lear“ (von Aribert Reimann) gelungen. Doch die Grand opéra bleibt, selbst wenn man die dafür einst obligaten Ballette streicht, musikalisch und szenisch immer noch genau das, was der Name besagt. Und eben kein Kammerspiel im Schatten einer großen Mauer. Genau dazu hat sich in München bei Rebecca Ringst die atmosphärische Bretterwand aus Paris gemausert. Das erdrückende unüberwindbar hohe Monstrum aus 12 Betonelementen öffnet zwar jede Menge Assoziationsräume – von der Klagemauer bis zu der neu errichteten, mit der Israel sich zu schützen versucht. Vor allem ist sie metaphorisch die Grenze in den Köpfen und Herzen, die jeder heilige Wahn dem freien Denken und menschlichen Mit-Fühlen setzt. Mit diesem abstrakten Un-Ort, dem Verzicht auf äußere Insignien der christlichen und jüdischen Religion, oder einer konkreten Zeit von geschürtem Judenhass im vorigen Jahrhundert, rückt Bieito zwar das Exemplarische von Borniertheit und Hass in den Vordergrund, zumal hier jede Figur mehr oder weniger ambivalent ist.
Aber er nimmt dem Ganzen damit auch ein Stück seiner Theaterwirkung. Alles bleibt über weite Strecken ein innerer Vorgang in den Figuren. Was dann aber mit verwendeten Versatzstücke der Wirklichkeit – wie der rabiaten Massentaufe von Kindern in Badebottichen, demonstrativ vorgezeigten blutigen Händen, einem eingespielten Slowmotion-Video auf dem ein Opferlamm geschächtet wird oder der rituellen Fußwaschung die der Kardinal bei Eleazsar vornimmt – kollidiert. Seltsam ist, dass er die Prinzessin Eudoxie als geradezu hysterische Konkurrentin Rachels um die Liebe Leopolds zeigt. Da verselbständigt sich eine potenzielle Obsession zu sehr. Zu den stärksten Szenen gehört die zwischen den beiden Frauen, die durch die Mauer getrennt und doch ganz nah sind. Vera-Lotte Böcker singt die Prinzessin nicht nur koloraturensicher, sondern spielt sie auch überzeugend. Aleksandra Kurzak ist vom feinen Piano bis zum unbeherrschten Ausbruch eine fabelhafte Rachel. Roberto Alagna ein kaum gebrochener, sondern durchweg ernsthafter Eleazar, der auch die berühmte Arie „Rachél, quand du Seigneur“ eher zornig singt. Während sich John Osborn den wankelmütigen und im Grunde feigen Leopold ebenso sicher anverwandelt wie Ain Anger, die bei aller Strenge doch um Ausgleich bemühte Figur des Kardinals Brogni. Der Chor macht aus der Verbannung in die Tableauformation das beste. Bertrand de Billy zelebriert als Gast am Pult des Bayerischen Staatsorchesters eher den geschmeidigen großen Ton, als dass er das Erregungspotential ausschöpft oder auf die vokalen Einzelnummern setzt, die Zwischenapplaus für die Sänger herauskitzeln würden. Ihr Orchester haben die Münchner jedenfalls schon enthusiastischer gefeiert.